Anzengruber

[604] Anzengruber, Ludwig, namhafter Schriftsteller, geb. 29. Nov. 1839 in Wien als Sohn eines kleinen Staatsbeamten, gest. daselbst 10. Dez. 1889, besuchte die Volks- und Unterrealschule seiner Vaterstadt, trat 14jährig bei einem Buchhändler in die Lehre, wurde 1858 Schauspieler, besaß wenig Talent und erlebte das ganze Elend der kleinen Wandertruppen, kehrte als Literat nach Wien zurück und erhielt hier 1869 die Stelle eines Kanzlisten bei der Polizeidirektion. Den ersten durchschlagenden Erfolg erlebte sein antiklerikales Volksstück »Der Pfarrer von Kirchfeld« (10. Aufl. 1899), das, wie andre Werke, unter dem Pseudonym L. Gruber herausgegeben, 5. Nov. 1870 im Theater an der Wien ausgeführt wurde. Die epochemachende Bedeutung von Anzengrubers Dramen liegt darin, daß er, an die guten Überlieferungen des Wiener Lokalstückes anknüpfend, volkstümliche und zeitgemäße Probleme in Lebensbildern von unverfälschter Wirklichkeitstreue packend darstellte; doch hielt er eine lehrhafte Tendenz nicht fern. Die Figuren aus dem Volke sind ihm durchweg gelungen, während die Personen vornehmen Standes durch ihr gespreiztes Wesen befremden. Die glänzenden Vorzüge seiner Kunst verriet vor allem das tragische Meisterwerk »Der Meineidbauer«, dessen Hauptfigur psychologische Tiefen erschließt, in die nur die größten Dichter hinabschauen. Fast noch bedeutender ist A. im Lustspiel, von dem er freilich ernstere Züge nicht ganz fern hält; hierher gehören »Die Kreuzelschreiber« (1872) mit der herrlichen Figur des Steinklopferhans, »Der G'wissenswurm« (1875), »Der Doppelselbstmord« (1875), »Das Jungferngift« (1878); ihnen folgte »Das vierte Gebot« (1878), die Tragödie des schlechten Elternhauses. Im November 1878 erhielt A. zugleich mit Wilbrandt und Nissen den Schillerpreis. 1882–85 war er Redakteur des Wiener Familienblattes »Heimat«, dann redigierte er den Wiener »Figaro«. Für das Volksstück »Heimg'funden« (1887) erhielt er den Grillparzerpreis. Die tragischen Volksstücke »Stahl und Stein« und »Der Fleck auf der Ehr'« (1889), Dramatisierungen von zwei Erzählungen Anzengrubers, verraten die abnehmende Kraft. Wenn der Dichter als hochbedeutender Vollender volkstümlicher Traditionen der deutschen Bühne anzusehen ist, so hat er als Erzähler und Romanschriftsteller gleichfalls Ausgezeichnetes geleistet, ohne jedoch neue Bahnen einzuschlagen. Außer durch seine »Kalendergeschichten« (seit 1876) und »Dorfgänge« (1879), unter denen wirksame Schwänke, wie »Der gottüberlegene Jakob«, »Wenn einer es zu schlau macht«, u. tragische Darstellungen, wie »Gottverloren«, »Der Einsam'« u.a., hervorzuheben sind, machte er sich durch den Roman »Der Schandfleck« (Wien 1876; umgearbeitete Ausg., Leipz. 1884, 6. Aufl. 1901) und die ausgezeichnete realistische Dorfgeschichte »Der Sternsteinhof« (das. 1885, 5. Aufl. 1901) in weitern Kreisen bekannt. Auf dem Zentralfriedhof in Wien wurde dem Dichter 1893 ein Denkmal (modelliert von J. Scherpe) errichtet. Seine »Gesammelten Werke« erschienen Stuttg. 1890 in 10 Bdn. (3. Aufl. 1897). Eine treffliche Biographie verfaßte A. BettelheimLudwig A.«, 2. Aufl., Berl. 1897), der auch Anzengrubers Briefe herausgab (Stuttg. 1902, 2 Bde.). Vgl. R. Rosner, Erinnerungen an A. (Wien 1890); S. Friedmann, Ludwig A. (Leipz. 1902); A. Schönbach, Gesammelte Aufsätze zur neuern Literatur (Graz 1900); H. Sittenberger, Studien zur Dramaturgie der Gegenwart (Münch. 1899).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1905, S. 604.
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