Erhaben

[39] Erhaben ist ein objektiver ästhetischer Begriff, d. h. ein solcher, durch den eine Eigenschaft des ästhetischen Objekts und nicht des auffassenden Subjekts bezeichnet wird. Während z. B. Pathos und Humor ästhetische Stimmungen sind, die der Auffassende in die Gegenstände hineinlegt, die aber nicht durch bestimmte, ihnen anhaftende Eigenschaften in jedem ästhetisch Auffassenden hervorgerufen werden, besteht dagegen das Erhabene, ebenso wie das Schöne (s.d.), in Eigenschaften des Objekts, die in jedem ästhetisch Auffassenden ein charakteristisches Gefühl erwecken. Das Gefühl des Erhabenen ist ein Mischgefühl, in dem starke Erregung und Spannung über einen unerwartet großen und kräftigen Eindruck das Unlustgefühl überwiegen, das aus dem Bewußtsein der durchschnittlichen Kleinheit der Lebenserscheinungen und insbes. auch unsers Ichs entspringt. Die objektiven Eigenschaften der Dinge, welche die Grundlage dieses Gefühls bilden, werden uns durch eine Grundfunktion unsers Verstandes, durch die Funktion der Vergleichung, zum Bewußtsein gebracht. Das Erhabene ist stets ein Größenbegriff, und e. bedeutet eigentlich soviel wie »erhoben«: E. ist dasjenige, was sich über das zu Erwartende erhebt. Kant unterschied das Erhabene der Kraft oder das dynamisch Erhabene einerseits und das mathematisch Erhabene, d. h. das Erhabene der räumlichen und zeitlichen Ausdehnung, anderseits. So erwecken etwa ein feuerspeiender Berg, ein mächtiger Wasserfall, das weit ausgedehnte Hochgebirge, die unabsehbare Flut des Meeres das Gefühl des Erhabenen. Die Funktion der Vergleichung zeigt uns, daß diese Erscheinungen an Kraft oder Ausdehnung über andre hinausragen. E. sind aber insbes. auch Erscheinungen des Seelenlebens: ungewöhnliche Kraft des Intellekts und namentlich des Willens, wie etwa bei Friedrich d. Gr. und Bismarck, sind e. Das Erhabene macht sich nicht nur geltend im Schaffen, sondern auch in der Zerstörung. Auch in einem Attila, Timur, Richard III. wirkt die Kraft des Erhabenen. Und nicht nur im Einzelbewußtsein, sondern auch im Gesamtbewußtsein macht sich das Erhabene geltend: so war etwa 1813 die deutsche Volksseele zu erhabener Kraftanspannung gesteigert. E. ist weiterhin oft das Walten des Schicksals: in dem Zusammenspiel der Umstände scheint sich eine höhere Macht zu offenbaren, deren eingreifendes Wirken den Eindruck des Erhabenen macht. Ausartungen des Erhabenen sind das Schreckliche, Entsetzliche, Gräßliche: hier ist die wirkende Kraft so groß, daß sie den Auffassenden niederdrückt oder ihm geradezu verderblich wird. Aus den angeführten Beispielen wird deutlich erkennbar, daß die übliche Erklärung des Erhabenen als einer Mischung aus Gefühlen der Lust und Unlust unzulänglich ist; das Wesentliche des Gefühlseindrucks liegt nach einer ganz andern Seite hin: es besteht in der starken Erregung und Spannung, die eine ungewöhnliche und unerwartete Kraftäußerung erweckt. Vgl. über das Erhabene Kants »Kritik der Urteilskraft« und die »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen« sowie Schillers Aufsatz »Über das Erhabene«; ferner: Burke, Philosophical inquiry into the origin of our ideas of the sublime and beautiful (Lond. 1757; deutsch von Garve, Riga 1773); Vischer, Über das Erhabene und Komische (Stuttg. 1837); endlich die neuern »Ästhetiken« (von R. Zimmermann u. a.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 6. Leipzig 1906, S. 39.
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