Wüstung

[801] Wüstung (Ödung, Elende) ist ein Sammelbegriff für eine Reihe von Erscheinungen, die schwer unter einheitlichem Gesichtspunkte zusammenzufassen sind. Man versteht darunter gewohnheitsgemäß menschliche Wohnstätten, im engern Sinne sogar nur ehemalige Dörfer (abgegangene, ausgegangene Dörfer, in mittelalterlichen Quellen: villae desolatae, desertae, non habitatae, unbesatzte dorfer) mit den zugehörigen FlurenWüste Marken«), die aus irgendeinem Anlaß dauernd ihre Selbständigkeit verloren haben, also auch solche, die nicht zugrunde, sondern in andern Gemeinwesen ausgegangen sind. Der Zeitpunkt des Wüstwerdens ist nicht bestimmend für den Charakter als W. Die meisten Wüstungen stammen zwar aus vorreformatorischer Zeit, aber es gibt auch solche aus den folgenden Jahrhunderten und der Gegenwart (Eingemeindungen). Bestimmend ist dagegen die Zeitdauer des Wüstliegens. Ein Dorf, das einige Jahre oder Jahrzehnte vorübergehend wüst war, dann aber wieder aufgebaut wurde, ist keine W. Dagegen haben wir eine W. vor uns, wenn nach geraumer Zeit, vielleicht nach Jahrhunderten erst, an der Stelle einer ehemaligen Ortschaft ein neues Dorf, ein Gut oder sonst eine menschliche Ansiedelung, sei es mit dem alten oder einem neuen Namen, entstand. Die Zahl der mittelalterlichen Wüstungen ist sehr groß; sie kommt der der blühenden Gemeinden meist gleich, übersteigt sie aber in manchen Gegenden um das Doppelte und Dreifache. Gründe für das massenhafte Eingehen von Ortschaften sind elementare Ereignisse (Bergstürze, Wegschwemmung durch Meer oder Flüsse, Versumpfung, Feuerverheerung), fürstliche Jagdleidenschaft u. dgl., ganz besonders aber der Krieg mit seinen Folgen (Zerstörung, Seuchen, Menschenmangel), die Anziehungskraft der Städte, die oft ein Dutzend und mehr Nachbardörfer (auch schon sehr früh) aufsaugten, das »Bauernlegen« (s. d.) seitens der Klöster und großen Gutsherren und namentlich Art und Weise der Kolonisierung eines Landes. Im ersten Kolonisationseifer wurden die Dörfer häufig an ungünstigen Punkten[801] angelegt, zu nahe an einem Flusse oder Bergabhange, in sumpfiger Gegend, auf zu trockenem oder unfruchtbarem Boden. Viele wurden daher schon nach kurzem Bestehen, oft unter Umänderung des Namens, verlegt. Die früher verbreitete Anschauung, daß jede W. aus dem Dreißigjährigen Kriege stamme, hat sich als unzutreffend erwiesen; nur einige wenige sind damals entstanden. Vgl. Beschorner, Wüstungsverzeichnisse in den »Deutschen Geschichtsblättern«, Bd. 4 (Gotha 1904); Hertel, Die Wüstungen in Nordthüringen (Halle 1901, mit Karte von Reischel).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 801-802.
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