Ansiedelung

[560] Ansiedelung, die Besitznahme unbebauter Ländereien, dann überhaupt die Errichtung einer neuen Wohnstätte außerhalb einer im Zusammenhange gebauten Ortschaft. Einzelansiedelungen bedürfen in den meisten deutschen Staaten der ortspolizeilichen Genehmigung. Mehrere im Zusammenhang liegende neue Ansiedelungen bilden eine Kolonie. In Preußen war durch Gesetze von 1807 und 1811 die Zerteilung der Grundstücke und die Gründung neuer Ansiedelungen dem freien Ermessen des Eigentümers überlassen worden. Die daraus für die Gemeindeverwaltungen, namentlich rücksichtlich der Verteilung der Gemeindelasten, sich ergebenden Übelstände führten zu den Gesetzen vom 3. Jan. 1845, bez. von 1850 und 1853, wonach Ansiedelungsgenehmigung erforderlich war, wenn auf einem unbewohnten Grundstück, das nicht zu einem andern bereits bewohnten Grundstück gehörte, Wohngebäude errichtet werden sollten. Nach dem für die ältern Provinzen Preußens, ausschließlich der Rheinprovinz, geltenden Gesetz vom 25. Aug. 1876, dem Gesetz für Hannover vom 4. Juli 1887, für Lauenburg vom 4. Nov. 1874, für Schleswig-Holstein vom 13. Juni 1888 und für Hessen-Nassau vom 11. Juni 1890 muß die Anlegung einer A., bez. Kolonie vom Kreisausschuß genehmigt werden.

Nicht selten ist A. auch in Ländern alter Kultur als Maßregel der Bevölkerungspolitik sowie zu wirtschafts- und sozialpolitischen und zu nationalen Zwecken angewendet worden. Man bezeichnet sie dann auch als Innere Kolonisation (s. d.), die innerhalb einer bereits vorhandenen staatlichen Gemeinschaft und auf bereits in Besitz genommenem Boden durch Schaffung neuer, meist kleiner und mittlerer Besitzeinheiten (Ansiedelungsgüter) einen der genannten Zwecke zu erreichen erstrebt. Am bekanntesten ist die neuere preußische Ansiedelungsgesetzgebung. Hier wurde durch Gesetz vom 26. April 1886 der Regierung ein Fonds von 100 Mill. Mk., der durch Gesetz vom 20. April 1898 auf 200 Mill. Mk. erhöht wurde, zur Verfügung gestellt zu dem Zwecke, um zunächst polnische Besitzungen in den Provinzen Westpreußen und Posen zu erwerben und durch A. deutscher Bauern, Handwerker und Arbeiter auf Stellen von kleinem oder mittlerm Umfang einerseits die Kluft zwischen Arm und Reich durch eine Vermehrung des Mittelstandes künstlich zu überbrücken, anderseits das deutsche Element in jenen Gegenden zu stärken. Die Ausführung des Gesetzes ist der königlichen Ansiedelungskommission übertragen, die über ihre Tätigkeit jährlich Bericht zu erstatten hat. Sie besteht aus den Oberpräsidenten der Provinzen Westpreußen und Posen, fünf Ministerialkommissaren, neun sonstigen vom König auf drei Jahre ernannten Mitgliedern und dem erforderlichen Personal an Beamten, Technikern, landwirtschaftlichen Sachverständigen etc. Die Überlassung der einzelnen Stellen an deutsche Ansiedler erfolgt zu Eigentum gegen Zahlung einer festen, aber ablösbaren Geldrente (s. Rentengüter) oder auch in Zeitpacht. In der Zeit vom 26. April 1886 bis 1. Jan. 1901 hat die Ansiedelungskommission 147,475 Hektar Grundstücke für rund 100 Mill. Mk. = 3,64 Proz. der Fläche Posens und 1,65 Proz. der Fläche Westpreußens erworben. Ansässig gemacht sind 4277 Ansiedlerfamilien mit rund 30,000 Köpfen (davon 2715 Familien von außerhalb der Ansiedelungsprovinzen zugewandert) auf 70,500 Hektar Stellenlandes, dessen Selbstkostenwert rund 50 Mill. Mk. beträgt. Dazu kommen noch rund 4000 Hektar Dotationsländereien für Gemeinden, Kirchen und Schulen und 18,000 Hektar fiskalische, als verfügbar bezeichnete Ländereien, die für die spätere Aufteilung, bez. Vergebung an den Ansiedlernachwuchs vorbehalten sind. Durch Neubauten der Ansiedler sind neben den fiskalischen Gebäuden gegen 4000 Wohnungen (3700 Ansiedlergehöfte) errichtet worden, deren Wert auf 32–35 Mill. Mk. geschätzt wird. Auf jedes Ansiedelungsgut kommen 30–35 Ansiedlerstellen; 110 Landgemeinden sind neu gebildet, andre umgebildet worden. Für Gemeindezwecke sind 76 Gebäude (meist Armen- und Spritzenhäuser) erbaut worden; 19 Kirchen, 12 Bethäuser, 17 Pfarrgehöfte und ein Organistengehöft, 113 Schulgemeinden und 116 Schulen sind neu errichtet worden. Der Wert der öffentlichen Gebäude beträgt rund 3,5 Mill. Mk. Zahlreiche genossenschaftliche Gründungen in den Ansiedlergemeinden (61 Spar- und Darlehnskassen, eine Kornhausgenossenschaft, 3 Kaufhausgenossenschaften, 15 Molkerei- und 3 Müllereigenossenschaften, 11 Brennereigenossenschaften, 21 Drainagegenossenschaften etc.) sorgen für Hebung des wirtschaftlichen Zustandes der Ansiedler. Vgl. außer den jährlichen Berichten der Ansiedelungskommission: Langhans, Karte der Tätigkeit der Ansiedelungskommission für die Provinzen Westpreußen und Posen 1886–1899 (2. Aufl., Gotha 1899); Sohnrey, Eine Wanderfahrt durch die deutschen Ansiedelungsgebiete in Posen und Westpreußen (Berl. 1897); Wittschier, Das staatliche Besiedelungswesen in den preußischen Ostprovinzen (Stuttg. 1901); Aal, Das preußische Renten gut (das. 1901).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1905, S. 560.
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