2. Sippe: Kletternattern (Coluber)

[346] Der mäßig lange, oben zugerundete Leib, von dessen Gesammtlänge der Schwanz ein Fünftheil oder etwas weniger einnimmt, das mäßig große, rundsternige Auge und das seitlich je zwischen zwei Schildern gelegene Nasenloch, die regelmäßige Beschilderung des Kopfes und die entweder ganz glatten, oder nur schwach gekielten, in neunzehn bis siebenundzwanzig Reihen angeordneten Bauchschilder sowie endlich die gleichmäßigen Zähne kennzeichnen die Sippe der Kletternattern (Coluber), welche in Europa durch mehrere Arten vertreten wird.

[346] Asklepios, der Gott der Heilkunde, trägt bekanntlich zum Zeichen seiner Wirksamkeit einen Stab in der Hand, um den sich eine Schlange windet. Welche Art der Ordnung die alten Griechen und Römer gemeint, läßt sich gegenwärtig nicht entscheiden; ziemlich allgemein aber nimmt man an, daß besagte Schlange ein Vertreter dieser Abtheilung gewesen und erst durch die Römer weiter verbreitet worden sei. Als unter den Konsuln Fabius und Brutus eine Pest in Rom wüthete, wurde sie, wie oben mitgetheilt, von Epidaurus aus herbeigeholt und sodann auf einer Insel der Tiber verehrt, um der Seuche zu steuern, und heutigentages noch soll man ihr Bild in den Gärten eines dem »heiligen« Bartholomäus geweihten Klosters sehen können. Von Rom aus, so nimmt man an, wurde die Schlange allgemach weiter verbreitet, ins besondere in den Bädern von Ems und Schlangenbad angesiedelt. Gewiß ist das eine, daß die Natter, welche wir gegenwärtig Aeskulapschlange nennen, noch gegenwärtig in solchen Ländern, in denen sie anderweitig nicht vorkommt, in der Nähe von Bädern gefunden wird. So begegnet man ihr in Deutschland bei Schlangenbad und Ems, in Oesterreich bei Baden, im unteren Tessin und in Wallis, wo sie nach Ansicht Fatio's ursprünglich ebenfalls nicht heimisch gewesen sein soll, fast ausschließlich zwischen den Trümmern der Römerbäder. In Deutschland hat man sie allerdings auch in Thüringen und im Harze entdeckt, und Giebel tritt deshalb der Ansicht, daß sie durch die Römer nach Norden verschleppt worden wäre, entgegen; es läßt sich aber doch wohl denken, daß die Schlange im Laufe der Zeit von den Bädern aus freiwillig sich weiter verbreitet hat oder durch Schlangenliebhaber verschleppt worden und später entkommen ist. Jedenfalls wurde neuerdings der Beweis geliefert, daß sie ohne besondere Schwierigkeiten sich einbürgern läßt. Graf Görtz ließ, wie er Lenz mittheilte, in den Jahren 1853 und 1854 nach und nach vierzig dieser Nattern aus Schlangenbad kommen und gab sie in der Nähe seines Landgutes Richthof, unweit Schlitz im Großherzogthum Hessen, frei. Sie fanden hier alles, was ihnen das Leben angenehm machen kann, sonnige, warme Lage, alte Bäume mit rissiger Rinde, Gebüsch, fruchtbares Gartenland, felsige, steile Abhänge, durchlöchertes altes Gemäuer, unterirdische Klüfte usw., und vermehrten sich, da sie hier ausdrücklich geschützt wurden, zwar nicht übermäßig, aber doch stetig. Daß auch von hier aus ein Auswandern stattgefunden hat, wurde wiederholt bemerkt; denn man fand einzelne in der Entfernung einer Wegstunde, andere sogar jenseit der Fulda, welche sie, weil es in der Nähe an Brücken fehlt, überschwommen haben mußten. Somit scheint mir die zuerst von Heyden ausgesprochene und von vielen anderen Forschern getheilte Ansicht, daß die Römer sie in Deutschland eingebürgert, noch keineswegs widerlegt. Die eigentliche Heimat unserer Schlange ist das südliche Europa von Spanien an bis zum Westufer des Kaspischen Meeres. Sie kommt im südlichen Frankreich an mehreren Stellen vor, findet sich in der Schweiz außer an den angegebenen Orten in Wallis und im östlichen Waadtlande, bewohnt, einzelne Gegenden wie die lombardische Ebene ausgenommen, ganz Italien, das römische Gebiet, Kalabrien und die beiden großen Inseln Sicilien und Sardinien sogar sehr häufig, verbreitet sich über Südtirol und steigt hier bis zu eintausendundfunfzig Meter über das Meer empor, tritt außerdem in Kärnten und Oberösterreich, seltener in Oesterreichisch-Schlesien auf, zählt in Galizien wie im südlichen Ungarn und Kroatien unter die häufigeren Schlangen, beschränkt sich hier jedoch nur auf das Waldgebirge, fehlt ebensowenig der Balkanhalbinsel und findet sich endlich in mehreren südlichen Gouvernements Rußlands.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Siebenter Band, Dritte Abtheilung: Kriechthiere, Lurche und Fische, Erster Band: Kriechthiere und Lurche. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 346-347.
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