Anmuthigkeit

[57] Anmuthigkeit. (Schöne Künste)

Die Eigenschaft eines Gegenstandes, wodurch er, im ganzen betrachtet, das Gemüth mit einem sanften und stillen Vergnügen rührt. So schreibt man einem schönen Frühlingstag eine Anmuthigkeit zu. Es giebt sehr schöne Gegenstände die nicht anmuthig sind. Denn alles, was das Gemüth mit sehr lebhaftem Vergnügen, oder mit Bewunderung und Begierde erfüllt, hat diese Eigenschaft nicht. Sie scheinet, wie der Herr von Hagedorn1 bereits angemerkt hat, nahe an das zu gränzen, was man den Reiz oder die Grazie zu nennen pflegt. Sie gewinnt das ganze Gemüth und erregt eine sehr sanfte und durchaus angenehme Zuneigung gegen die Sachen.

Die Anmuthigkeit scheinet aus solchen Schönheiten zu entstehen, die man nicht besonders unterscheidet; weil keine sich besonders ausnimmt: sie verfließen alle zusammen in ein harmonisches Ganzes. Man nennt deswegen in der Mahlerey das Colorit anmuthig, wo weder sehr starke Lichter noch starke Schatten sind, sondern wo viel helle und angenehme Farben in einer sanften Harmonie stehen. Unter den Mahlern hat Corregio die höchste Anmuthigkeit erreicht, und ist darin für den ersten Meister zu halten, so wie Raphael im Ausdruke. Fast in eben diesem Verhältnisse stehen unter den Dichtern, Virgil, der Meister der Anmuthigkeit, und Homer, des Ausdruks.

Anmuthig seyn ist also der besondre Charakter einer gewissen Art des Schönen, wodurch es sich von dem Schönen Erhabenen, oder Prächtigen, oder Feurigen unterscheidet. Das Anmuthige gefällt allen Arten von Gemüthern, aber ruhigen und stillen am meisten; denn in ihnen findet sich die meiste Ruhe.

Die Anmuthigkeit erreicht kein Künstler, als der, dem die Natur eine sanfte, gefällige Seele gegeben hat. Nicht die größten, sondern die liebenswürdigsten Künstler, sind dazu geschikt. Dergleichen waren in redenden Künsten Virgil und Addison; in zeichnenden, Corregio und Claude Lorrain; in der Musik, Graun, dessen liebenswürdige Seele sich auch selbst da zeiget, wo er zornig seyn will.

1S. Betrachtung über die Mahlerey. S. 29.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 57.
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