Fließend

[392] Fließend. (Schöne Künste)

Dasjenige, was unsre Vorstellungskraft ohne alle Aufhaltung und Hinternis in einem gleichen Grad der Stärke unterhält. Der Ausdruk ist von einem sanft fortfließenden Wasser genommen, dessen mäßige Geschwindigkeit überall gleich ist. Man sagt von einer gebundenen, oder ungebundenen Rede, sie sey fließend, wenn sie wie ein sanfter Strohm so fortgeht, daß weder das Ohr, noch die innern Sinnen einmal merklich stärker, als das andre gereitzt werden, wenn alles leicht auf einander folgt, daß man in seinen Vorstellungen, ohne merkliche Unterbrechungen, und erneuerte oder veränderte Aufmerksamkeit, sanft fortgeführt wird. Auf eine ähnliche Art ist ein fließendes Tonstük beschaffen, oder eine fließende Melodie, wenn alles ungezwungen, ohne schnelle Veränderungen in unsern Vorstellungen hinter einander folget. Man nennt auch eine Zeichnung fließend, wenn die Umrisse ohne Unterbrechung, ohne starke oder schnelle Wendungen, ohne Zwang, in angenehmen Krümmungen fortgehen.

Das Fließende ist demnach dem Holprigen und Rauen gerade entgegen gesetzt, wobey die Aufmerksamkeit alle Augenblik anstößt, eine Weile gehemmt, oder verstärkt wird. Auch das Feurige und Lebhafte, und das wilde Rauschende, sind dem Fließenden einigermaaßen entgegen.

Das Fließende hat ausser der Leichtigkeit auch die Würkung, daß es das Gemüth nur sanft angreift, angenehm aber fast unvermerkt von einer Vorstellung zur andern fortführet, und uns in stiller Betrachtung einwieget, wiewol es uns auch nach und nach bis zum sanften Reitz fortziehen kann. Und hieraus ist zu sehen, daß das Fließende nur in denen Werken, oder Theilen der Werke statt hat, welche allmählig auf das Gemüthe würken sollen. Es wäre ein Fehler in den Werken, die uns überraschen, fortreißen, oder überhaupt in starke und lebhafte Empfindungen setzen sollen. Es ist eine wesentliche Eigenschaft des blos Angenehmen und Sanftreitzenden. Stille, wiewol tiefsitzende Leidenschaften, liebliche Vorstellungen der Phantasie, müssen auf eine fließende Art behandelt werden, eben so wie das, was man Unterhaltend und Ergötzend nennt.

Virgil ist in den angenehmen Scenen, die er beschreibt, Ovidius und Euripides in sanften Affekten und angenehmen Gemählden, Phädrus und La Fontaine in ihren Fabeln Fließend. Grauns meiste Melodien sind Muster des Fließenden.

Es ist ein Zeichen eines schwachen Genies, oder eines verdorbenen Geschmaks, wenn man in Werken der Kunst alles Fließend verlangt; denn auf diese Weise könnten die größten Würkungen ofte nicht erhalten werden. Vielmehr ist das Fließende gar oft ein Fehler. Es wäre lächerlich, wenn ein Redner bey Vorstellung einer nahen Gefahr das Fließende in seiner Rede suchen wollte. Es ist allen heftigen und strengen Leidenschaften gänzlich entgegen.

Es erfodert aber einen Reichthum der Gedanken, eine Kunst seine Vorstellungen auf alle Seiten umzuwenden, eine Fertigkeit in allen Wendungen, und feine Sinnen, um das Fließende zu erreichen.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 392.
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