Richtigkeit

[985] Richtigkeit. (Schöne Künste)

Richtig nennt man eigentlich das, was ohne Fehler ist; und hieraus erkennet man die Bedeutung des Worts Richtigkeit. Eigentlich ist sie die Vollkommenheit in dem Mechanischen der Kunst. Eine Rede hat Richtigkeit in Gedanken, wenn nichts Falsches darin ist; im Ausdruk, wenn die Wörter gerade das sagen, was sie sagen sollen, und wenn die Regeln der Grammatik genau beobachtet worden. Der Vers ist richtig, wenn nichts gegen die Prosodie versehen ist; die Zeichnung, wenn sie die wahre Form und die wahren Verhältnisse der Dinge angiebt. Ein Tonstük ist im Saz richtig, wenn nichts gegen die Regeln der Harmonie, des Takts und des Rhythmus versehen worden.

Obgleich ein Werk des Geschmaks bey der genauesten Richtigkeit höchst schwach und unbedeutend seyn kann; so ist sie ihm doch nothwendig; weil jeder Fehler dem, der ihn bemerkt, anstößig ist. Aber die bloße Richtigkeit kann bisweilen schon Vergnügen erweken, ob es gleich scheinet, daß sie nur vor Mißvergnügen verwahre. Man fühlet dieses sehr bestimmt in den Werken der blos mechanischen Künste, wo es allemal Vergnügen macht, wenn ein Werk vollkommen das ist, was es nach mechanischen Regeln seyn soll. Das Werk des Pfuschers ist nur ohngefehr, wie es seyn sollte; das Runde ist nicht in der höchsten Vollkommenheit rund; das was irgendwo hineinpassen, oder sich wo anschließen soll, paßt und schließt zwar, aber nur unvollkommen, entweder mit Zwang, oder zu leicht. Das Werk eines vollkommenen Meisters aber zeiget nirgend einigen Mangel; was schließen soll, schließt genau; was scharf seyn soll, ist höchst scharf u.s.w. Wer einiges Gefühl von Vollkommenheit und Genauigkeit hat, findet Vergnügen an einem solchem Werk; und dieses Vergnügen entsteht daher, daß man überall die Beobachtung der Regeln entdeket, daß man die vollkommene Gleichheit des Werks mit dem Ideal desselben, was die Regeln bestimmen, bemerket. [985] Das Vergnügen, das von der Richtigkeit herkommt, genießen eigentlich nur die Künstler und die Kenner, weil nur diese sich der Regeln deutlich bewußt sind, für andre ist die höchste Richtigkeit blos etwas verneinendes; sie verwahret nur vor Anstoß.

Wer also nicht blos Liebhabern sondern auch Kennern gefallen will; wem daran gelegen ist, daß sein Werk nicht blos bey dem Liebhaber das bewürke, was es bewürken soll, sondern sich auch zugleich dem Verstand als ein vollkommen bearbeitetes Werk zeige, der muß sich der höchsten Richtigkeit und der Reinlichkeit1 befleißen. Dieses aber wird dadurch erleichtert, daß man sich aller mechanischen Regeln, denen ein Werk unterworfen ist, auf das Deutlichste bewußt ist. Ein sorgfältiger Künstler verläßt sich nicht allein auf sein Genie, sondern studirt auf das genaueste, das mechanische seiner Kunst. So haben Klopstok und Ramler in Absicht auf den Bau der Verse, sich gewiß nicht blos auf ihr feines Gehör verlassen, sondern alle Regeln der Versification und des Wolklanges auf das genaueste erforschet. Ein Werk kann bey viel kleinen Unrichtigkeiten höchst schäzbar seyn. Hallers Gedichte wurden auch bey allen Unrichtigkeiten der ersten Ausgaben, sehr hoch geschäzt, und verdienten es auch. Viel Gemählde sind bey mancherley Unrichtigkeit in Zeichnung, Perspektiv und Haltung, von großem Werth. Bey dem allem, sind die Unrichtigkeiten Kennern anstößig.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 985-986.
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