Sittlich

[1089] Sittlich. (Schöne Künste)

Bezeichnet zwar alles, was zu den Sitten gehöret, aber das Wort wird auch besonders im Gegensaz des Leidenschaftlichen gebraucht, so wie die Griechen das ἠθος von dem παθος unterschieden haben, und in diesem Sinn haben wir es an vielen Stellen dieses Werks gebraucht. Demnach ist das Sittliche in Werken des Geschmaks das, was uns Vorstellungen von Sitten, von Gesinnungen, Gemüthsart, Handlungsweise und Maximen erweket, in so fern sich dabey keine merklich starke Leidenschaften äußern; oder überhaupt, was uns den Menschen in einem ruhigern Gemüthszustand vorstellt. Es giebt also sittliche Schilderungen, sittliche Aeußerungen, eine sittliche Schreibart, wie es eine pathetische giebt.

Das Sittliche rühret mit weniger Kraft, als das Leidenschaftliche; es kann nie erschüttern, nie das Herz zerreißen, noch in heftige Bewundrung sezen. Aber man würde sich sehr irren, wenn man daraus schließen wollte, es habe überhaupt in den schönen Künsten einen geringern Werth, als das Leidenschaftliche. Nur auf Menschen von etwas gröberen Stoffe, die nicht sehr empfindsam sind, kann man nicht anders, als durch das Leidenschaftliche würken; aber feinere Gemüther werden auch durch das blos sittliche, zwar nicht ungestühm, aber doch unwiederstehlich angegriffen. Es geht in der sittlichen Welt, wie in der körperlichen. Wenigdenkende, unachtsame und unwissende Menschen werden nur von außerordentlichen sehr stark in die Sinnen fallenden Begebenheiten der Natur, durch Sturm, Donner, Erdbeben, Feuersbrünste und dergleichen, zu einiger Aufmerksamkeit und Empfindung gereizt; weniger in die Augen fallende Dinge, als die bewundrungswürdige Ordnung, nach welcher alles, was zur Erhaltung und Fortpflanzung der Geschöpfe nöthig ist, unvermerkt bewürkt wird, rühren sie nicht; aber Denker, feinere und empfindsamere Menschen, finden in diesen stilleren Begebenheiten einen weit reichern Stoff zum Vergnügen und zur stillern Bewundrung, als in jenen rauschenden. So ist es auch in dem Reiche des Geschmaks. Eine Comödie, [1089] eine Erzählung, oder irgend ein anderes Werk der Kunst, darin blos feinere sittliche Gegenstände geschildert worden, wie belustigend oder rührend, wie edel oder wie groß sie auch an sich seyen, oder wie fürtrefflich der Künstler sie behandelt habe, wird Menschen von etwas stumpfen Sinnen wenig gefallen; desto mehr Vergnügen aber findet der feinere Geschmak darin. So gefällt auch eine feuerige oder pathetische Schreibart dem gemeinesten Leser, aber die blos sittliche, gelassene, wie fürtrefflich sie auch sonst sey, hat nur den Beyfall der Kenner.

Es ist aber auch leicht zu sehen, daß weit mehr dazu gehört durch das Sittliche, als durch das Leidenschaftliche zu gefallen. Bey diesem ist es ofte schon hinreichend, daß man lebhaft empfinde, oder einen sehr stark in die Augen fallenden Gegenstand ergreiffe; jenes aber erfodert schon feinere Bemerkungen, und folglich auch zum Ausdruk mehr Kenntniß und Kunst. Einem Mahler muß es sehr viel leichter seyn einen Menschen zu zeichnen, der sich vor heftigen Schmerzen windet, und das Gesicht verzerret, als einen, an dem man bey ruhiger Stellung und gelassener Mine allerhand sorgsame Gedanken wahrnehmen könnte. Und so ist es mit jedem andern blos sittlichen Gegenstande beschaffen.

Das Leidenschaftliche erwekt mehr Empfindung als Gedanken; beym Sittlichen denkt man mehr, als man empfindet. Deswegen kann man sich auch mit diesem weit länger und anhaltender beschäftigen, als mit jenem. Denn in Gedanken herrscht weit mehr Mannigfaltigkeit, als in Empfindungen; und weil sie nicht so stark angreifen, als diese, so ermüden sie auch weniger.

Damit wollen wir gar nicht sagen, daß für die Werke des Geschmaks jeder sittliche Gegenstand, jedem leidenschaftlichen vorzuziehen sey. Es kommt hier auf die Absicht des Werks und auf die Personen an, für die es bestimmt ist. Ein Redner, der vor der großen Menge spricht, muß seinen Stoff ganz anders wählen und behandeln, als wenn er es blos mit feinern denkenden Köpfen zu thun hat; und wenn es darauf ankommt schnell, stark und allenfalls auch nur vorübergehend zu rühren, so muß man ganz anders verfahren, als wenn man den Zuhörer auf immer belehren, oder überzeugen will. Eine ruhige und sittliche Schreibart, auch ein mündlicher Vortrag von diesem Charakter, schiket sich zu einem ruhigen und sittlichen Inhalt, aber feuerig und leidenschaftlich muß beydes seyn, wenn der Stoff der Rede stark leidenschaftlich ist. Ueber das Sittliche der Schreibart des Redners giebt Quintilian einige gründliche Lehren, auf die wir uns Kürze halber beziehen.1

1Inst. L. VI. c 2.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1089-1090.
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