Verwandschaft der Töne

[1230] Verwandschaft der Töne. (Musik)

In dieser Benennung wird das Wort Ton, für Tonleiter gesezt; denn wenn man sagt, ein Ton stehe mit einem andern in Verwandschaft, so meinet man; die Tonleiter des einen Tones, als Tonica betrachtet, habe Uebereinkunft mit der Tonleiter des andern. Also bestehet die Verwandschaft der Töne darin, daß die Tonleiter einer Tonica, mit der Tonleiter einer andern nahe übereinstimme. Diese Verwandschaft, oder Uebereinstimmung aber wird in einer doppelten Absicht betrachtet, in Rüksicht auf die Ausweichungen, oder auf die Versezungen.

In Absicht auf die Ausweichungen bestehet die Verwandschaft der Töne darin, daß der Ton in den man ausweicht, das Gefühl des vorhergehenden nicht plözlich auslösche; hingegen sind zwey Töne in Absicht auf die Versezung1 verwandt, wenn die verschiedenen Intervalle der Tonica in beyden nicht sehr unterschieden sind. In einem, nach der gleichschwebenden Temperatur gestimmten Clavier sind gar alle Töne in Absicht auf die Versezungen gleich verwandt, und völlig einerley; denn jede Tonica hat genau dieselben Intervalle, wie die andre:2 aber auch auf einem solchen Instrument sind nicht alle Töne in Absicht auf die Ausweichungen gleich verwandt.

Wenn von der Verwandschaft der Töne gesprochen wird, so verstehet man insgemein die Verwandschaft, die in Absicht auf die Modulation betrachtet wird. Von dieser ist hier allein die Rede, da von der andern in dem Artikel Versezung gesprochen worden.

In etwas längern Tonstüken, wo zwar dieselbe Hauptempfindung durchaus herrscht, aber doch in ihrer Stimmung, oder ihrem Ton verschieden, oder ofte gleichsam anders schattirt wird, kann der Gesang nicht in einem Tone bleiben, sondern wird durch Ausweichungen in verschiedene andere Töne herübergeleitet. Dieses kann nun so geschehen, daß allemal der nächste Ton, in den man ausweicht, in seinem Charakter mehr, oder weniger Uebereinkunft, das ist, mehr oder weniger Verwandschaft mit dem vorhergehenden hat. Wann izt die Empfindung durch merkliche Schattirung sich von der vorhergehenden unterscheiden soll, so muß man in einen etwas entfernten, das ist, wenig verwandten Ton ausweichen; soll aber die Schattirung weniger merklich, oder abstechend seyn, so weichet man in einen näher verwandten Ton aus. Also muß man bey der Modulation die Verwandschaft der Töne nothwendig vor Augen haben. Deswegen muß man auch die Grade dieser Verwandschaft bestimmen können.

Also entstehet hier die Frage, woraus diese Verwandschaft zu erkennen sey.

Weil in jedem Ton die drey wesentlichen Sayten, Tonica, Dominante und Mediante, am öftersten gehört werden, folglich das Gehör gleichsam stimmen; so sind überhaupt die Töne verwandt, deren wesentliche Sayten in beyder Töne Tonleiter vorkommen; wo aber eine oder mehrere der wesentlichen Sayten des einen Tones, der Tonleiter des andern fremd sind, folglich ihr Gefühl auslöschen, oder verdunkeln, da ist keine Verwandschaft. So sind dem [1230] Ton C dur, die Töne G dur, A mol, E mol, F dur und D mol verwandt. Denn keiner dieser Töne hat eine wesentliche Sayte, die nicht in der Tonleiter des Tones C dur enthalten wäre. Hingegen sind demselben Tone C dur, die Töne G mol, A dur u.s.f. gar nicht verwandt, weil die Terzen dieser Töne nicht in der Tonleiter des C dur liegen, folglich, da sie ofte vorkommen, das Gefühl dieser Tonleiter gleich auslöschen.

Die Grade der Verwandschaft zu schäzen, muß man außer den Tonleitern der beyden Töne auch auf die sehen, die ihren Dominanten zugehören; weil man gar ofte in einem Ton den Accord seiner Dominante hören läßt. Daraus wird man z.B. sehen, daß G dur dem C dur näher, als E mol, verwandt ist, weil auch die Dominante von G dur, in ihrer Tonleiter dem C dur näher kommt, als die Tonleiter der Dominante von E dur.

Wir haben an einem andern Orte3 einen Canon, oder ein Formular gegeben, woraus man leicht für jeden Ton die Grade der Verwandschaft mit andern erkennen kann.

Verschiedene Harmonisten haben gezeiget, wie man aus jedem Ton durch alle 24 Töne hindurch in einer Folge so moduliren könne, daß immer der folgende mit dem vorhergehenden, in naher Verwandschaft stehe, zulezt aber die Modulation auf den ersten Hauptton wieder zurük komme. Dieses wird der harmonische Cirkel genennt.4

1S. Versezung. (Transposition.)
2S. Temperatur.
3Art. Ausweichung S. 120.
4Man sehe Heinichens Anweisung zum Generalbasse. S.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1230-1231.
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