Wechselseitiger Unterricht

[676] Wechselseitiger Unterricht ist der nach dem Französischen unpassend gewählte Ausdruck zur Benennung der Bell-Lancaster'schen Lehrmethode oder desjenigen Verfahrens beim Unterrichte, nach welchem von einem Lehrer mehre Classen zugleich mit Hülfe der von ihm eingerichteten und beaufsichtigten Schüler im Lesen, Schreiben, Rechnen und andern mechanischen Fertigkeiten unterrichtet werden. Dieses Verfahren gründet sich demnach nicht sowol auf ein wechselseitiges Unterrichten, als vielmehr auf die stufenweise Fortsetzung und Verallgemeinerung des Unterrichts, indem geübtere Schüler denselben bei kleinern Abtheilungen von Schülern wiederholen und der Lehrer auf diese Weise in den Stand gesetzt wird, gleichzeitig eine große Anzahl Schüler und selbst von dem verschiedensten Alter zu beschäftigen. Diese Lehrart ist indischen Ursprungs und sie wird von den ersten Urhebern derselben in Europa das System Bell's und Lancaster's genannt. Unstreitig muß es als ein Vorzug desselben angesehen werden, daß es den Volksunterricht wegen der großen Anzahl Schüler, die auf diese Weise von einem Lehrer mittels der ihm helfenden Schüler unterrichtet werden, äußerst billig und wohlfeil macht; und darum hat es in England, Frankreich und Nordamerika, wo im Ganzen die Volksbildung noch sehr darniederliegt, allgemeinen Eingang gefunden; dagegen hat man in Deutschland, wo das Volksschulwesen auf dem Pestalozzi'schen Grundsatze der Selbstentwickelung beruht, das Bell-Lancastersystem selten bei der Einrichtung von Volksschulen berücksichtigt, und nur in Dänemark, Holstein und Schleswig ist es, und auch hier unter den mannichfaltigsten Beschränkungen, zur Anwendung gekommen. Denn abgesehen davon, daß nach dem System Bell's und Lancaster's die Schüler, welche den Unterricht des Lehrers in niedrigern Abstufungen wiederholen und fortsetzen, des weitern Fortschritts ermangeln und zum Dünkel verleitet werden, so beschränkt sich auch der ganze Unterricht auf die blos mechanischen Fertigkeiten des Lesens, Schreibens, Rechnens und Hersagens des auswendig Gelernten und was die Hauptsache beim Unterricht ist: Bildung des Herzens, Übung und Belebung der Geisteskraft, das wird zum Theil ganz vernachlässigt. Vergl. Zerrenner, »Über das Wesen und den Werth des wechselseitigen Schulunterrichts«.

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Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 676.
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