Gedächtnispflege im Unterricht

[425] Gedächtnispflege im Unterricht. Über den Wert eines guten Gedächtnisses für praktische Betätigung und geistige Ausbildung des Menschen kann kaum Streit bestehen. Viel aber ist in der pädagogischen Welt darüber gestritten worden, ob das Gedächtnis im Unterricht unmittelbar durch Auswendiglernen (Memorieren) gepflegt werden soll. Die ältere Weise des Unterrichts, namentlich vor Verbreitung des Buchdruckes, nahm vorzugsweise das Gedächtnis in Anspruch, gemäß dem Grundsatz der Alten, daß man nur so viel wisse, wie man im Gedächtnis halte (Tantum scimus, quantum memoria tenemus). Grundsätzlichen Einspruch dagegen erhob im Beginn des 17. Jahrh. Wolfgang Ratke (Ratichius; s. d.); er wollte nichts auswendig lernen, sondern alles nur verstandesmäßig aneignen lassen. Auch J. J. Rousseau (s.d.) sagt: »Emil soll nie etwas auswendig lernen«; der Zögling soll sich nach ihm nur Urteile, nicht Worte aneignen. Ihm folgten im wesentlichen die Philanthropen (s.d.). Die neuere Pädagogik, namentlich durch das Verdienst Herbarts (s.d.), hat sich für einen psychologisch begründeten Mittelweg entschieden. Sie verlangt, daß[425] vorzugsweise das Verständnis, die innere Aneignung, gepflegt und durch diese unter Zuhilfenahme geeigneter Wiederholungen und gegenseitiger Verknüpfung verwandter Vorstellungen und Vorstellungsreihen das unwillkürliche Behalten des unterrichtlich verarbeiteten Stoffes angebahnt werde. Um aber Gegenstände des Unterrichts, an denen neben dem Inhalt der Vorstellungen auch die Form, in der sie zu einem Ganzen verwoben sind, wesentlichen, historischen oder ästhetischen Wert hat, Kernsprüche, klassische Dichtungen etc., zum unverlierbaren Eigentum zu machen und zugleich das unwillkürliche Gedächtnis durch Übung zu kräftigen, muß ein sorgfältig ausgewählter Schatz von Wissenswürdigem doch auch planmäßig memoriert werden. Dagegen ist jede bloß äußerliche Aneignung, jede für sich bestehende Gedächtnisübung und namentlich jeder Unterricht, der lediglich oder vorzugsweise auf gedächtnismäßige Einprägung ausgeht (memoriale Unterrichtsmethode), zu verwerfen.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 425-426.
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