Philosophiegeschichte

[116] Philosophiegeschichte bedeutet: 1) den Proceß des Entstehens und Wandels der Lösungen der philosophischen Probleme, 2) die Darstellung dieses Processes, der Lehren der Philosophen in ihrem inneren Zusammenhange und in ihrer Abhängigkeit vom Cultur-Milieu (s. d.) und den philosophierenden Persönlichkeiten. Wenn auch in der Geschichte der Philosophie eine strenge Gesetzmäßigkeit nach Art der Naturgesetze nicht besteht (schon wegen des Persönlichkeitsfactors), so weist sie doch einen gewissen Rhythmus in der Art der Behandlung der Probleme auf und läßt, wie alle geistige Entwicklung, ein Gesetz der »Entwicklung in Gegensätzen« (s. d.) erkennen. Die Philosophiegeschichte gliedert sich in eine Reihe von Perioden, die aber nicht streng gegeneinander abzugrenzen sind. Innerhalb jeder Periode finden wir Einseitigkeiten, Gegensätze und Vermittlungen. Die Einseitigkeit der Betrachtungsweise treibt, besonders wenn sie extrem wird, zu den gegensätzlichen Einseitigkeiten und beide zu Vermittlungsversuchen, die aber nicht abschließend sind, so daß sich, auf höherer Stufe und mit manchen sicheren Errungenschaften, der Proceß wiederholt. Solche Einseitigkeiten, Gegensätze sind: Empirismus als Sensualismus-Rationalismus, Dogmatismus-Skepticismus, Objectivismus-Subjectivismus, Naturalismus-Theosophie, Evolutionismus-Seinsstandpunkt. Actualismus-Substantialismus, Dualismus-Monismus, Continuitätslehre-Atomismus, Pantheismus-Pluralismus, Spiritualismus-Materialismus, Parallelismus-Wechselwirkungstheorie u.s.w. Alle Denkmittel wollen verwertet, alle Standpunkte berücksichtigt, alle Problemstellungen versucht werden.

Nach TENNEMANN ist die Geschichte der Philosophie »die Darstellung der Bestrebungen der Vernunft, die Wissenschaft, welche der Vernunft als Ideal vorschwebt, zustande zu bringen, in ihrem Zusammenhange. oder die pragmatische Darstellung der allmählich fortschreitenden Bildung der Philosophie, als Wissenschaft« (Gr. d. Gesch. d. Philos. S. 7). Eine vernünftige Notwendigkeit findet in der Philosophiegeschichte F. AST (Gr. d. Gesch. d. Philos. 1807). Besonders ist es aber HEGEL, welcher die Philosophiegeschichte von einer streng logischen Gesetzmäßigkeit beherrscht glaubt. Er meint: »Dieselbe Entwicklung[116] des Denkens, welche in der Geschichte der Philosophie dargestellt wird, wird in der Philosophie selbst dargestellt, aber befreit von jener geschichtlichen Außerlichkeit, rein im Elemente des Denkens« (Encykl. § 14). Er meint, »daß die Aufeinanderfolge der Systeme der Philosophie in der Geschichte dieselbe ist, als die Aufeinanderfolge in logischer Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee« (Philos. d. Gesch. I, 43 ff.). In allen Zeiten gibt es nur eine Philosophie, die sich dialektisch (s. d.) entwickelt (l. c. III, 690). Die letzte Philosophie ist »das Resultat aller früheren. nichts ist verloren, alle Principien sind erhalten« (l. c. d. 685). »Der Wertmeister aber dieser Arbeit von Jahrtausenden ist der eine lebendige Geist, dessen denkende Natur es ist, das, was er ist, zu seinem Bewußtsein zu bringen und, indem dies so Gegenstand geworden, zugleich schon darüber erhoben und eine höhere Stufe in sich zu sein. Die Geschichte der Philosophie zeigt an den verschieden erscheinenden Philosophien teils nur eine Philosophie auf verschiedenen Ausbildungsstufen auf, teils, daß die besondern Principien, deren eines einem System zugrunde lag. nur Zweige eines und desselben Ganzen sind. Die der Zeit nach letzte Philosophie ist das Resultat aller vorhergehenden Philosophien und muß daher die Principien aller enthalten. sie ist darum, wenn sie anders Philosophie ist, die entfaltetste, reichste und conoreteste« (Encykl. § 13). Die Philosophiegeschichte ist die »Geschichte von dem Sich-selbst-finden des Gedankens« (Gesch. d. Philos. S. 15), »die Geschichte der Entdeckung der Gedanken über das Absolute, das ihr Gegenstand ist« (l. c. S. 12. vgl. FEUERBACH, WW. II, 6f.). Gegen Hegel u. a. E. ZELLER (Philos. d. Griech I4, 9 ff.). Nach SCHOPENHAUER hat die Philosophie zwei Perioden: »Die erstere war die, wo sie, Wissenschaft sein wollend, am Satz vom Grunde fortschritt und immer fehlte, weil sie am Leitfaden des Zusammenhangs der Erscheinungen.« »Die zweite Periode der Philosophie wird die sein, wo sie, als Kunst auftretend, nicht den Zusammenhang der Erscheinungen, sondern die Erscheinung selbst betrachtet, die Platonische Idee, und diese im Material der Vernunft, in den Begriffen, niederlegt und festhält« (Neue Paralipom. § 20). Nach G. SPICKER ist die Geschichte der Philosophie »die continuierliche Ergänzung der einseitig gefaßten unendlichen Idee« (K., H. u. B. S. 163). Nach RENAN hat die Philosophiegeschichte keine regelmäßige Entwicklung, schon wegen der Individualität der Denker (Philos. Fragm. S. 205). Nach P. RÉE ist die Philosophiegeschichte die »Geschichte der fehlgeschlagenen Versuche, die Probleme der Philosophie zu lösen« (Philos. S. 241). – Von neueren Auffassungen der Philosophiegeschichte sei die culturgeschichtliche von WINDELBAND angeführt. Nach ihm ist die Philosophiegeschichte »der Proceß, in welchem die europäische Menschheit ihre Weltauffassung und Lebensbeurteilung in wissenschaftlichen Begriffen niedergelegt hat« (Gesch. d. Philos. S. 8). Drei Factoren liegen dieser Geschichte zugrunde. Der erste ist der pragmatische. Es ist »der Fortschritt in der Geschichte der Philosophie in der Tat streckenweise pragmatisch, d.h. durch die innere Notwendigkeit der Gedanken und durch die Logik der Dinge zu verstehen« (l c. S. 10). Dazu kommt der culturgeschichtliche Factor: »Aus den Vorstellungen des allgemeinen Zeitbewußtseins und aus den Bedürfnissen der Gesellschaft empfängt die Philosophie ihre Probleme wie die Materialin zu deren Lösung« (ib.). Der individuelle Factor ist sehr bedeutsam, weil die Hauptträger der Philosophie »sich als ausgeprägte, selbständige Persönlichkeiten erweisen, deren eigenartige Natur nicht bloß für die Auswahl und Verknüpfung der Probleme, sondern auch für die Ausschleifung der Lösungsbegriffe[117] in den eigenen Lehren, wie in denjenigen der Nachfolger maßgebend gewesen ist« (l. c. S. 11). Die philosophiegeschichtliche Forschung hat: »1) genau festzustellen, was sich über die Lebensumstände, die geistige Entwicklung und die Lehren der einzelnen Philosophen aus den vorliegenden Quellen ermitteln läßt. 2) aus diesen Tatbeständen den genetischen Proceß in der Weise zu reconstruieren, daß bei jedem Philosophen die Abhängigkeit seiner Lehren von denjenigen der Vorgänger, teils von den allgemeinen Zeitideen, teils von seiner eigenen Natur und seinem Bildungsgange begreiflich wird. 3) aus der Betrachtung des Ganzen heraus zu beurteilen, welchen Wert die so festgestellten und ihrem Ursprunge nach erklärten Lehren in Rücksicht auf den Gesamtertrag der Geschichte der Philosophie besitzen.« »Hinsichtlich der beiden ersten Punkte ist die Geschichte der Philosophie eine philologisch-historische, hinsichtlich des dritten Moments ist sie eine kritisch-philosophische Wissenschaft« (l. c. S. 12). Nach DEUSSEN ist die Geschichte der Philosophie »die Geschichte einer Reihe von Gedanken über das Wesen der Dinge« (Allgem. Gesch. d. Philos. S. 1).

Die Litteratur der Werke über Philosophiegeschichte bei ÜBERWEG-HEINZE, Gr. d. Gesch. d. Philos. I9, S. 9 ff. Hier seien erwähnt: J. J. BRUCKER, Historia critica philos. 1742/44. TIEDEMANN, Geist der speculat. Philos. 1791/97. FÜLLEBORN, Beitr. zur Gesch. d. Philos. 1791/99. J. G. BUHLE, Lehrb. d. Gesch. d. Philos. 1796/1804. Gesch. d. neuern Philos. 1800/5. DÉGÉRANDO, Histoire comparée des systèmes de philos. 1804. W. G. TENNEMANN, Gesch. d. Philos. 1798/1819. H. RITTER, Gesch. d. Philos. 1829/53. HEGEL, Vorles. üb. d. Gesch. d. Philos. 1833/36. A. SCHWEGLER, Gesch. d. Philos. im Umriß 1848. J. E. ERDMANN, Gr. d. Gesch. d. Philos. 1866, 4. A. 1896. A. STÖCKL, Lehrb. d. Gesch. d. Philos. 1870. WINDELBAND, Gesch. d. Philos. 1892, 2. A. 1000. Gesch. d. neuen Philos. 2 A. 1899. ÜBERWEG-HEINZE, Gr. d. Gesch. d. Philos. 9. A. (Bd. II, 8. A.), 1901/3. J. BERGMANN, Gesch. d. Philos. 1892/93. J. REHMKE, Gr. d. Gesch. d. Philos. 1896. K. FISCHER, Gesch. d. neuen Philos. 1864 ff.. R. FALCKENBERG, Gesch. d. neuern Philos. 3. A. 1898. H. HÖFFDING, Gesch. d. neuern Philos. 1894/96. vgl. über den Begriff der Philosophiegeschichte: REINHOLD, Fülleborns Beitr. zur Gesch. d. Philos. I, 1791, S. 29 ff.. GROHMANN, Üb. d. Begriff d. Gesch. d. Philos. 1797. Vgl. Scholastik.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 116-118.
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