Die Kultur der Reaktionszeit. Kunst und Dichtung

[313] »Wenn jemand von außen käme und die gegenwärtige Lage Griechenlands kennenlernte«, schreibt Isokrates im J. 380, »er würde uns (Sparta und Athen) für große Toren halten, daß wir [313] uns um Kleinigkeiten herumstreiten und unser eigenes Land zugrunde richten, wo wir ohne Gefahr Asien erobern könnten.» So war es in der Tat. Die innere Zerrissenheit fesselte alle Kräfte der Nation und verdammte sie zur Abhängigkeit von einem schwachen Feinde, dessen Ohnmacht offenkundig war und der sich in seinem eigenen Gebiet nur durch die Kräfte zu behaupten vermochte, welche Hellas selbst nicht zu verwerten verstand. Und das zu einer Zeit, wo Hellas materiell und geistig eine Höhe der Kultur erreicht hatte, wie sie auf Erden noch nie gesehen war; wo es als selbstverständlich galt, daß, wie Euripides es formuliert hatte, die Ausländer von der Natur bestimmt seien, den Hellenen zu dienen, den einzelnen als Sklaven, der Gesamtheit als zinsende Untertanen; wo die Benennung «Ausländer» den gehässigen und verächtlichen Klang erhielt, den das Wort Barbar bis auf den heutigen Tag behalten hat; wo die Hellenen von sich rühmten, sie seien das einzige Volk, in dem das wahre Leben der Menschheit in der Form eines freien Staats sich verwirklichen könne; wo gleichzeitig die griechische Kultur, nicht nur ihre materiellen und militärischen Errungenschaften, sondern auch ihre künstlerischen und geistigen Güter, in immer weitere Kreise drang, zu Makedonen und Thrakern, Kleinasiaten und Phönikern, zu den Völkern Italiens, ja nach Karthago und an die Höfe der persischen Satrapen, so daß Isokrates, die Anschauung der folgenden Jahrhunderte antizipierend, bereits behaupten konnte, daß «der Hellenenname nicht mehr als Bezeichnung der Abstammung, sondern der Gesinnung gilt und wir Hellenen eher die nennen, die an unserer Bildung teilhaben, als die, welche von Geburt zum Volke gehören» (paneg, 50). Es war, das durfte er mit Stolz aussprechen, Athen, das diese Kultur geschaffen hatte; und noch immer war es die Bildungsstätte von Hellas, noch immer drängte sich hier zusammen, wer das Leben in höherem Sinne genießen oder wer für seine Schöpfungen und Gedanken Anerkennung finden wollte, und in noch weit höherem Maße als im vorigen Jahrhundert galt der Satz, daß «was vor dem Urteil Athens bestanden hatte, damit bei allen Menschen der Anerkennung sicher sei». Aber als politische Macht, welche bestimmend in die Geschicke der Welt eingriff, lag es am Boden; und [314] an seine Stelle war mit der allgemeinen Verwilderung eine Reaktion getreten, die, unfähig zu schöpferischer Tat, sich in dem Bestreben verzehrte, die lebendigen Kräfte niederzuhalten, auf denen allein die Zukunft der Nation beruhen konnte.

Aus dem großen Kampf um die Kultur, der die letzte Generation in ihren Tiefen erschüttert hatte, war die moderne Weltanschauung als Siegerin hervorgegangen (o. S. 272f.); trotz aller aristokratischen und demokratischen Reaktion beherrscht sie mit ihrem Doppelantlitz alle Geister. Euripides, der Bahnbrecher der neuen Ideen, hält jetzt nach seinem Tode den Triumphzug durch ganz Hellas. Er verdrängt, zwar nicht in der offiziellen Wertung, wohl aber tatsächlich, für alle Gebildeten Homer aus seiner Stellung als Lehrmeister der Nation, etwa in derselben Weise, wie für die Deutschen Goethe an die Stelle der Bibel getreten ist. Schon beginnen in den Kreisen der Fortgeschrittenen die Angriffe auf Homer: er ist doch gar zu beschränkt und veraltet und seine Behandlung der Mythen und der Götter und Heroen gar zu kindlich und abgeschmackt und gar nicht zu vergleichen mit der tiefsinnigen Art, wie die Modernen dem Stoff immer neue Seiten abzugewinnen verstehen. Andere, die so weit nicht gehen wollten, halfen sich mit allegorischen Deutungen, und wer feiner empfand, konnte sich auch in der neuen Zeit der wunderbaren poetischen Kraft und Wahrheit des ewig jugendfrischen Epos nicht entziehen. Aber man fordert von dem Dichter nun einmal ethische und philosophische Belehrung, wie Homer sie, wörtlich verstanden, nicht bietet; so hat auch Plato, so schmerzlich es ihn ankam, sich entschließen müssen, Homer und seine Genossen aus dem Idealstaat zu verbannen, ja er sieht in dem alten Sänger den Urquell des vergiftenden Irrwahns, der den Schein für die Wahrheit nimmt – wenn er auch als alter Mann eingesteht, daß er keinen größeren Kunstgenuß kennt als den Vortrag Homers oder Hesiods durch einen guten Rhapsoden (leg. II 58 d). Und dabei ist Plato durchaus Reaktionär und Klassizist auch auf künstlerischem Gebiete. Deutlicher läßt sich nicht aussprechen, daß eine unüberbrückbare Kluft die neue Zeit von der alten Kultur getrennt hat; die Naivität des Empfindens, die unmittelbare Hingabe an den Eindruck, den [315] naturwüchsigen, fast möchte man sagen: instinktmäßigen Glauben der alten Zeit kann und will sie nicht mehr anerkennen: sie ist durch und durch und mit vollem Bewußtsein reflektiert, und nur was reflektiert ist, hat für sie noch Berechtigung.

In der äußeren Gestaltung des Kulturlebens zeigt sich die lähmende Wirkung der ununterbrochenen Kriege und Revolutionen auf allen Gebieten des künstlerischen Schaffens. An hervorragenden Geistern und bedeutenden Künstlern freilich war das vierte Jahrhundert nicht weniger reich als das fünfte. Aber wenn damals die Kultur unter dem Zeichen eines mächtig aufstrebenden Staats und darum der Staatsidee stand, so fehlt jetzt der staatliche Mittelpunkt durchaus. Lysander allerdings hat als Regent von Hellas zahlreichen Künstlern und Dichtern Beschäftigung gegeben (o. S. 31f.); aber Sparta war auf diesem Gebiet am wenigsten geeignet, Athen zu ersetzen. Auch bei Dionys überwogen durchaus die rein praktischen Aufgaben, auch in seiner Bautätigkeit; trotz oder vielmehr gerade infolge seiner eigenen Dichtertätigkeit hat er weder Kunst noch Poesie gefördert, wenn auch Dichter wie Philoxenos und Literaten aller Art an seinem Hofe ein Unterkommen suchten. Weit mehr hat Archelaos von Makedonien getan: er wollte sein Volk in die griechische Kultur einführen. Wie er die hervorragendsten Dichter zu sich berief und auch Sokrates zu gewinnen suchte, so hat er seinen Palast von Zeuxis ausmalen lassen583. Aber mit seiner Ermordung war es mit dem ephemeren Aufschwung Makedoniens fürs erste vorbei. Größere künstlerische Aufgaben sind in der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts von den griechischen Staaten nur ganz vereinzelt gestellt worden. So hat Tegea, durch den engen Anschluß an Sparta zur Zeit vielleicht, wenn auch nicht die volkreichste, so doch die am festesten stehende und wohlhabendste Gemeinde des Peloponnes, als im J. 394 der Tempel der Alea (Athena) niedergebrannt war, durch Skopas von Paros den größten und schönsten aller Tempel des Peloponnes erbauen lassen584. Daneben ist etwa noch der Tempel des Asklepios in der [316] großen Kuranstalt von Epidauros585 zu nennen. In Athen dagegen bildet das Erechtheum, das in der Not des Dekeleischen Kriegs vollendete Wunderwerk des ionischen Stils (Bd. IV 2, 318), auf lange Zeit den Abschluß der großen staatlichen Bautätigkeit. Mehr Beschäftigung durch die Staaten erhielten Plastik und Malerei; Götterstatuen, Weihgeschenke von Erz und Marmor, Gemälde wurden auch jetzt noch in großer Zahl in Auftrag gegeben, und auch Athen hat, wenn es einmal Erfolge hatte, sie künstlerisch verherrlichen lassen. So malte Pamphilos von Amphipolis den siegreichen Kampf bei Phlius (o. S. 244, 2); nach dem Frieden von 374 schuf Kephisodot von Athen sein berühmtestes Werk, die Statue der Friedensgöttin (u. S. 388); und die Schlacht von Mantinea wurde in der Halle des Zeus Eleutherios auf dem Markt von Euphranor586 durch drei große Wandgemälde verherrlicht, den Reiterkampf vor der Schlacht, die Versammlung der zwölf Götter und Theseus zwischen der Göttin Demokratie und dem personifizierten Demos587.

Indessen das alles waren doch nur Ausnahmen, die für die Gesamtentwicklung der bildenden Kunst kaum mehr ins Gewicht fielen; die erste wahrhaft große und neue Aufgabe, die ihr nach dem Falle Athens wieder von einer Regierung gestellt worden ist, war das Grab des Maussollos von Karien (353 v. Chr.). Im wesentlichen hat die Kunst des vierten Jahrhunderts für Privatleute gearbeitet, und zwar nicht mehr allein, wie in der alten Zeit, Weihgeschenke, die sie den Göttern als Zehnten ihres Geschäftsgewinns oder sonst als Dank für ihre Hilfe darbrachten, und daneben etwa noch die Reliefs der Gräber, sondern in stets steigender Zahl auch Kunstwerke für den Schmuck der Wohnungen. Die Lebenshaltung war üppiger geworden; und wenn die Masse verarmt war, so konnten die Reichen um so mehr jedes Bedürfnis befriedigen. Daher übernimmt unter den bildenden Künsten jetzt die Malerei [317] entschieden die Führung, und zwar nicht mehr das Wandgemälde mit seinen großen, rasch hingeworfenen Kompositionen, sondern das Tafelbild, das erst die volle Entfaltung des künstlerischen Könnens und die sorgfältige Ausführung im Detail gestattet. Durch Apollodoros, Zeuxis, Parrhasios war die Malerei technisch ebensosehr vervollkommnet wie künstlerisch: man konnte jetzt die verschiedensten Nuancen der Farben herstellen und ein warmes lebenswahres Kolorit schaffen; die Schattierung war durch Apollodor eingeführt, in der Feinheit und Präzision der Zeichnung wetteiferten Zeuxis und Parrhasios miteinander. Auf der neu erschlossenen Bahn schritten die Künstler des vierten Jahrhunderts von Generation zu Generation vorwärts. Die Gemälde der großen Meister waren vielfach in Tempeln oder sonst an allgemein zugänglichen Orten zu finden; aber weit größer muß bei ihnen und vollends bei den Künstlern zweiten und dritten Ranges und bei den höheren Kunsthandwerkern die Zahl der Werke gewesen sein, die in Privatbesitz übergingen. Dadurch wurde die Fortentwicklung in der Richtung, die im fünften. Jahrhundert begann, nur gefördert: die Kunst löst sich los von den praktischen Aufgaben sowohl wie von den religiösen und staatlichen Bedürfnissen, aus denen sie erwachsen ist; sie wird Selbstzweck, und jeder Meister schafft sein Werk unbekümmert um jede andere Rücksicht rein aus der individuellen Auffassung seiner Kunst heraus. Auch da, wo ihm eine bestimmte Aufgabe gestellt ist, etwa ein Götterbild, ein Votivgemälde, die Darstellung eines Priesters oder eines Kriegers für ein Weihgeschenk, gestaltet er es lediglich nach seinem künstlerischen Triebe, und die Besteller sind damit zufrieden, weil auch ihnen das Kunsthandwerk an sich zur Hauptsache geworden ist. Daher gewinnt auf der einen Seite die individuelle Charakterisierung nicht mehr nur des Vorgangs, sondern auch der dargestellten Figuren immer größeren Raum, auf der anderen das Genre. Mit Vorliebe greifen die Maler ihre Sujets aus dem täglichen Leben, und sie tragen diese Behandlung auch in die Darstellung von religiösen und mythologischen Gegenständen, von Kampfszenen u.ä. hinein – berühmt ist, wie aus dem fünften Jahrhundert Zeuxis' Kentaurenfamilie, so jetzt die von Aristides von Theben [318] gemalte Szene aus der Eroberung einer Stadt, »wo ein kleines Kind zu der auf den Tod getroffenen Mutter herankriecht, um aus der Brust zu trinken, und man empfindet, wie die Mutter fürchtet, es möchte statt Milch Blut saugen«, ein Gemälde, das Alexander bei der Zerstörung Thebens nach Pella entführte; ferner Pausias' Blumenszenen und sein Stieropfer mit der verkürzten Darstellung eines riesigen Stieres. Der Hochsitz der Malerei – und auch das ist für die veränderte Stellung der Kunst bezeichnend – war jetzt nicht mehr eines der großen politischen Zentren der Nation, sondern das abseits gelegene Sikyon. Hier haben Eupompos (um 400) und sein Schüler Pamphilos von Amphipolis eine Malerschule begründet, die sich durch Generationen fortsetzt und in Pamphilos' Schülern Pausias und Melanthios und in der nächsten Periode in dem größten von allen, Apelles von Kolophon, ihren Höhepunkt erreicht. Daneben stehen die Fortsetzer der athenischen Traditionen, vor allem der ältere Aristides von Theben und Euphranor von Korinth. Auch in der Plastik tritt die gleiche Tendenz hervor, sehr stark namentlich in den herrlichen, zum Teil von Meistern ersten Ranges geschaffenen athenischen Grabreliefs aus dem vierten Jahrhundert. Aber auch in Kephisodots Eirene mit dem Plutosknaben ist die Annäherung an diese Behandlungsweise unverkennbar. Die Göttin wahrt noch die Majestät des alten Kultbildes; aber sie trägt den Knaben nicht mehr als Attribut, wie Phidias' Athena die Nike, sondern sie wendet sich ihm zu, und er streckt ihr den Arm entgegen: das Gottesbild zeigt uns zugleich eine Familienszene aus dem Leben der Götter. Im übrigen steht die Plastik in einem Übergangsstadium; erst zu Ende der Epoche erstehen die großen Meister, Skopas von Paros, Praxiteles von Athen, der Sohn Kephisodots, und dann Lysippos von Sikyon, welche den von der Malerei gewonnenen Vorsprung einzuholen und die Plastik zu einer zweiten Epoche höchster Blüte zu erheben berufen waren.

Äußerlich betrachtet scheint es um Musik und Poesie wesentlich anders zu stehen. Hier hat Athen seine großen Kulturschöpfungen auch in den Zeiten des Niedergangs unverändert aufrechterhalten und daher auch seine zentrale Stellung behauptet. [319] Nach wie vor folgt ein Fest dem anderen, jedes mit musikalischen und dramatischen Aufführungen588. Die einzige Abweichung von der alten Ordnung ist, daß das Satyrdrama, von den Tragödien losgelöst und auf ein einziges Stück zu Anfang der Aufführungen beschränkt ist; dann folgt die Wiederaufführung eines klassischen Stücks und darauf die drei um den Preis konkurrierenden Trilogien. Bei den Komödien ist die Zahl der Stücke sogar auf fünf erhöht worden. So stand das vierte Jahrhundert an Masse der Produktion dem fünften in keiner Weise nach. Das Publikum, Athener wie Fremde, nimmt an ihr denselben Anteil wie früher; und dazu hält jetzt, wie der in Athen wenn nicht geschaffene, so doch in seiner modernen Form ausgebildete Dithyrambos589, so die dramatische Poesie ihren Siegeszug durch die ganze Hellenenwelt; bei jedem größeren Fest sind sie unentbehrlich, überall erbaut man Theater nach dem Muster Athens. Aber innerlich haben beide Künste ihr Wesen vollständig geändert. Die alte Kunst ist mit der alten Kultur untergegangen; mögen vereinzelte Idealisten, wie Plato, auch jetzt noch darüber klagen, daß die moderne Kunstweise durch und durch korrupt ist, daß die Musiker und Dichter dem Geschmack des großen Haufens fröhnen, statt das Publikum zu sich emporzuheben und wahrhaft zu belehren, mögen sie, in Anknüpfung an ein Wort Damons (Bd. IV I, 532, 1), darin eine der tiefliegendsten Wurzeln der von Sizilien und Italien herübergekommenen sittlichen und politischen Korruption sehen (rep. IV 424c. leg. II 659 bff.), die Hoffnungslosigkeit einer Reform müssen auch sie anerkennen. Die Musik und der Dithyrambos haben offenbar ähnlich wie die Malerei, nachdem die Grundlagen der neuen Kunst geschaffen waren, eine lange Epoche höchster Blüte erlebt; sie stehen jetzt [320] durchaus im Mittelpunkt des ästhetischen Interesses, vielleicht in noch höherem Maße als die Musik im deutschen Kulturleben des neunzehnten Jahrhunderts und – das darf man angesichts der zahlreichen Zeugnisse der Literatur nicht verkennen – in weit höherem als die bildende Kunst. Kein Name eines Dichters des vierten Jahrhunderts ist auch nur annähernd so gefeiert wie die des Philoxenos und des Timotheos (Bd. IV I, 822) und ihrer großen Nachfolger, vor allem des Telestes von Selinus (siegt in Athen 401) und des Polyidos – für uns sind sie freilich so gut wie verschollen. Wesentlich anders steht es um das Drama. In der Tragödie herrscht jetzt Euripides durchaus; fast ohne Ausnahme folgen die neueren Dichter seinem Vorbild. Aber Euripides selbst hatte bereits die Tragödie innerlich zersprengt; über ihn hinaus führt kein Weg mehr. So bleiben seine Nachfolger trotz aller Begabung doch nur Nachahmer, die wohl einen Tageserfolg gewinnen und zeitweilig hoch gefeiert werden mögen, wie Astydamas und später Theodektes von Phaselis, von denen sich aber kein einziger dauernd im Gedächtnis der Nation behauptet hat. Das lebendigste Interesse haftet doch immer an den klassischen Stücken der großen Zeit, vor allem des Euripides selbst, die man immer aufs neue zu hören begehrt. Daher wird jetzt für die Aufführungen der Schauspieler fast wichtiger als der Dichter; auch für ihn werden Preise ausgesetzt, die ihm ermöglichen, ganz seinem Berufe zu leben, und in der Schauspielkunst entwickelt sich ein Virtuosentum genau derselben Art wie in den musikalischen Aufführungen. – Auch die Komödie hat in ihrer ursprünglichen Gestalt den Fall Athens nicht überlebt. Es ist ergreifend zu sehen, wie Aristophanes, der uns wie kein anderer das alte Athen und die alte Komödie lebendig macht, nun auch das Bild der gefallenen Stadt, die sich trotz aller Versuche nicht wieder aufraffen kann, und mit ihm die neue Komödie vorführen muß, die wie die neue Stadt von der alten Herrlichkeit nur noch die Trümmer bewahrt. Gerade die Ekklesiazusen (o. S. 239, 1) führen uns den Wandel der Zeiten und den ungeheuren Abstand nur um so deutlicher vor Augen, weil sie mit Ausnahme des durch musikalische Zwischenspiele fast völlig verdrängten Chors nicht nur die alte Form festhalten,[321] sondern, auch beweisen, daß der Dichter nicht gealtert und seine komische Muse so zeugungskräftig ist wie je. Im Plutos (o. S. 259) sehen wir dann die neue Gestaltung schon im wesentlichen vollendet. Die jüngeren Rivalen des Aristophanes, vor allem Plato und dann Theopompos und Strattis, haben den Wandel mitgemacht, die Nachfolger, in erster Linie Anaxandridas und Antiphanes, die neue Form, »die mittlere Komödie«, voll ausgebildet. Die Politik und die persönliche Invektive tritt ganz zurück bis auf gelegentliche Anspielungen auf Zeitereignisse und stadtbekannte Persönlichkeiten wie in unseren Possen; den Gegenstand bilden Szenen aus dem Alltagsleben und Vorführung von Charaktertypen, Verspottung philosophischer Lehrmeinungen und Lebensführung, wozu die Ekklesiazusen die Vorläufer bilden, und daneben mythologische Parodien, die nicht selten ein bekanntes Drama travestieren; ferner Märchen und allegorische Darstellungen, wie eben schon Aristophanes' Plutos. So knüpft die »mittlere« Komödie nicht an Kratinos, Aristophanes und Eupolis an, sondern vielmehr an Krates und Pherekrates; sie nähert sich immer mehr dem sizilischen Lustspiel Epicharms. Daher ist sie auch nicht mehr untrennbar an den Boden Athens gebunden; unter ihren Vertretern stammen gerade die hervorragendsten aus der Fremde, Anaxandridas aus Rhodos, Antiphanes aus Kleinasien, der etwas jüngere Alexis aus Thurii; und zum Teil haben sie wohl auch nicht nur für Athen, sondern daneben für andere Bühnen gedichtet.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 5, S. 313-322.
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