Revolution und Gegenrevolution in Athen

[278] Auf dem griechischen Festlande war es während des Jahres 412 zu größeren Kämpfen nicht gekommen. Auch Euböa blieb ruhig, so eifrig sich die Aristokraten von Chalkis und namentlich von Eretria um peloponnesische Hilfe bemühten. Zu Anfang des Jahres 411 gelang es dann den Böotern, Athen die untertänige Grenzstadt Oropos durch Verrat zu entreißen251. Aber schwer und immer schwerer lastete der Krieg auf Athen. Hatte man im Herbst 412 einen Augenblick hoffen dürfen, des Aufstandes Herr zu werden, so war jetzt das ionische Festland und Rhodos so gut wie definitiv verloren, und mit Beginn des Frühjahrs scheiterte die Aussicht, Chios wieder zu unterwerfen; dafür wurde der Krieg jetzt auch nach dem Hellespont getragen. Das bedeutete einen Ausfall von mindestens etwa 200 Talenten Einnahme. Dafür drängten sich die Ausgaben Tag für Tag: der Schatz von 1000 Talenten ist bis Anfang 411 größtenteils verausgabt worden und dazu alles, was anlaufenden Einnahmen in den Schatz der Athena kam und was die Bündner freiwillig zu ihm beisteuerten252; und doch konnte man bereits dem Heere auf Samos den Sold nicht mehr zahlen, sondern die Truppen mußten sich selbst versorgen, so gut es ging253. Dafür standen den [279] Gegnern die persischen Subsidien zur Verfügung. Was sollte erst geschehen, wenn die letzten Reste des Reservefonds erschöpft waren und wenn gar Persien mit voller Energie in den Krieg eintrat und dazu die Insurrektion noch an anderen Stellen des überall gärenden Reiches ausbrach? So elastisch das Temperament des athenischen Volkes war, jeder aufrichtige Patriot konnte nur mit der schwersten Besorgnis in die Zukunft blicken.

Bei dieser Lage blieb die konservativ-reaktionäre Strömung ständig im Wachsen; die radikale Demokratie hatte abgewirtschaftet. Euripides, der während des Archidamischen Krieges die populären Anschauungen und den Haß gegen Sparta geteilt hatte (s.S. 88), wendet sich seit der sizilischen Expedition ganz von der herrschenden Politik ab und spricht fortan über die Pöbelherrschaft, wie sie in Athen besteht, bei jeder Gelegenheit das Verdammungsurteil. Ehemalige Anhänger des Perikles, wie Sophokles, wurden jetzt zum mindesten stutzig und wiesen den Gedanken einer Verfassungsänderung nicht mehr unbedingt von der Hand. Die aristokratische und gemäßigt demokratische Opposition aber, die ehemals, anknüpfend an die Traditionen des Kimon und Thukydides, den Kampf gegen Kleon geführt hatte, und die im Archidamischen Kriege herangewachsene vornehme Jugend, welche damals ihre Bewunderung Spartas offen zur Schau getragen hatte, glaubte die Zeit gekommen, wo sie ihr Programm durchführen konnte. Auch sie waren zumeist durchaus ehrliche Patrioten, denen das Wohl und die Macht des Staates ebenso am Herzen lag wie den Ehrlichen unter den Radikalen; eben um Athen zu retten, wollten sie die Verfassung reformieren. An Eifer und Opfern hatten sie es nicht fehlen lassen; ihr Wohlstand war durch die unsinnige Kriegspolitik ruiniert und von ihren Angehörigen noch mehr auf den Schlachtfeldern gefallen oder in den Steinbrüchen von Syrakus verschmachtet als von den Leuten aus dem Volk. Die pekuniären Lasten des Krieges hatten sie auch ferner nahezu allein, die militärischen fast ausschließlich zu tragen – denn für die arme Bevölkerung war es kein Opfer, wenn sie für gute Bezahlung die Trieren des Staates ruderten, statt als Matrosen der Kauffahrteischiffe oder als Lastträger und Handwerker ihr Brot verdienen zu müssen –; so war es nicht mehr [280] als billig, daß sie auch die politische Leitung erhielten. Was dabei herauskam, wenn die ungebildete Menge das entscheidende Wort sprach, hatte jetzt die Erfahrung auch dem blödesten Auge enthüllt; und die fortdauernde Vergeudung der Staatsmittel für die Diäten und die Fütterung der Massen mußte in kürzester Frist zum Bankerott führen (Aristoph. Lys. 651ff.). Wenn man in Athen eine vernünftige Verfassung einführte, mußte man sie auch den Bündnern gewähren; dann stand zu hoffen, daß auch bei diesen die Intelligenz und das Kapital, befreit von dem doppelten Druck der Pöbelherrschaft daheim und der Ausbeutung zugunsten des attischen Demos, mit Eifer für Athen eintreten und die Gärung im Reiche ein Ende finden werde. Dann durfte man aber auch vertrauen, daß es gelingen werde, die alten Beziehungen zu Sparta, wie sie Kimon gepflegt hatte, wiederherzustellen und so das attische Land von der Invasion zu befreien und zugleich den eigenen Grundbesitz, die Grundlage ihrer politischen Stellung, wiederzugewinnen. Dann war dem Mißtrauen gegen die von Athen ausgehende demokratische Agitation der Anlaß entzogen, und die beiden hellenischen Großmächte konnten wieder wie ehemals vertrauensvoll Hand in Hand gehen. So war Rückkehr zu der alten Verfassung (πάτριος πολιτεία)254 der Kleistheni schen Zeit, die Athen groß gemacht hatte, das Losungswort dieser Partei, Aufhebung der radikalen Neuerungen des Ephialtes und Perikles und vor allem Beseitigung der Diäten für Ämter, Rat und Gericht, und Beschränkung des aktiven Bürgerrechtes auf die, welche sich selbst mit Waffen ausrüsten konnten (ὅπλα παρεχόμενοι). Auf etwa Fünftausend – so stark war durch den Krieg und den Verlust des Landgebietes der Wohlstand zurückgegangen – schätzte man die, welche imstande seien, »dem Staat mit ihrer Person und ihrem Vermögen zu dienen«; aus diesen sollte fortan die souveräne Volksversammlung bestehen. Anderen waren auch Kleisthenes und Solon schon zu radikal. Solon war doch der Erzvater der Demokratie, der mit der Schuldentilgung und der Einführung der Volksgerichte die abschüssige [281] Bahn betreten und durch die vielen Zweideutigkeiten in seinen Gesetzen die Handhabe zur weiteren Ausbildung der Volkssouveränität geboten hatte. Wir besitzen aus dieser Zeit die Skizze einer Idealverfassung, welche dem Drakon zugeschrieben ist, als dem echten Gesetzgeber, dessen Werk Solon verfälscht habe; in ihr sind die Ideale des rechten Flügels der Reformpartei niedergelegt255.

Zu den Anhängern der gemäßigten Richtung gehörten unter den angesehenen Bürgern Aristokrates, der Sohn des Skellias, Stratege 413/2, einer der Eidesleister des Nikiasfriedens, und Kleitophon, der Sohn des Aristonymos; ferner vermutlich Melesias, der Sohn des Thukydides, Laispodias, der Stratege von 415/4 (s.S. 232) und sein damaliger Genosse Pythodoros von Anaphlystos, wahrscheinlich identisch mit dem Ankläger des Protagoras (s.S. 201), dem Sohn der Polyzelos; ferner der tüchtige Reiteroffizier Dieitrephes, Stratege 414/3, Andron, der Sohn des Androtion, weiter z.B. Polystratos, der bei der Überrumpelung durch die Böoter in Oropos (s.S. 279) kommandiert und einen Sohn auf Sizilien bei den nach Katana Geretteten (s.S. 255, 4), zwei bei der Reiterei in Attika stehen hatte; vor allem aber Theramenes, der Sohn des Probulen Hagnon, der geistig bedeutendste Mann der Partei. Auch der im Exil lebende Thukydides, der Historiker, bekannte sich zu ihren Anschauungen. Hinter ihnen aber standen die Extremen, die sich um Antiphon von Rhamnus scharten (s.S. 140). Antiphon war Theoretiker; zu den praktisch tätigen Staatsmännern dieser Partei gehörten Aristarchos, der früher schon einmal Stratege gewesen war, Aristoteles, Archeptolemos, der Sohn des Baumeisters Hippodamos von Milet, der zur Zeit der Katastrophe von Sphakteria für den Frieden tätig gewesen war, die Strategen Onomakles (s.S. 271) und Charminos (s.S. 273), Melanthios, vielleicht der tragische und elegische Dichter, der in seiner Jugend eine scherzhafte Elegie auf Kimon verfaßt hatte, Kallaischros aus dem Medonti denhause, [282] dem auch Solon entstammt war, Alexikles und manche andere. Ihr bedeutendster Politiker war Phrynichos (s.S. 267f.), der jetzt als Stratege auf Samos kommandierte256. Nicht die Demokratie zu[283] moderieren und auf ihre ältere, gesunde Form zurückzuführen, sondern sie gänzlich zu beseitigen und durch eine echte Oligarchie zu ersetzen, war ihr Ziel. Ob der Demos wie bisher alle Athener oder, wie die Reformer wollten, nur die Besitzenden umfaßte, schien ihnen ziemlich gleichgültig; der Demos sollte überhaupt nichts zu sagen haben, sondern der Elite der καλοὶ κἀγαϑοί, den Vornehmen und Gebildeten, gehorchen; diese allein waren berechtigt und befähigt, das Regiment zu führen. Daß ein derartiges Ziel, welches die gesamte Entwicklung seit Solon rückgängig machen wollte, sich mit der Aufrechterhaltung der bisherigen Machtstellung Athens nicht vereinigen ließ, sahen wenigstens die klardenkenden Köpfe unter ihnen völlig deutlich. Wie der Verfasser der Schrift vom Staat der Athener (s.S. 92) sprach auch Phrynichos seinen Gesinnungsgenossen offen aus, daß es eine Illusion sei, wenn man glaube, die Bündner durch eine Verfassungsänderung gewinnen zu können; sie wollten lieber unter welcher Verfassung immer frei, als unter der besten Untertanen sein, und gegen die vornehmen Athener und die von ihnen zu erwartende Willkürherrschaft seien sie mit Recht noch mißtrauischer wie gegen den Demos und das Volksgericht. Jeder Versuch, die Demokratie zu mäßigen und für den echten Vornehmen erträglich zu machen, war eben, wie die Schrift vom Staat der Athener ausführt, notwendig utopisch. Wollte man aber eine radikale Änderung, so war sie nur mit Hilfe Spartas, unter Verzicht auf jede äußere Macht, erreichbar. Den Heißspornen der Partei war das eben recht. Die Großmachtpolitik, die Themistokles mit der Schöpfung der Flotte inauguriert hatte, war das Unheil Athens; sie hatte im Inneren unerträgliche Zustände geschaffen und stürzte den Staat jetzt unrettbar in den Abgrund. Rückkehr zu den Verhältnissen der guten alten Zeit, zur Kleinstaaterei und den behaglichen Zuständen des patriarchalischen Regiments war das Ideal dieser Männer; wie sollte man sich scheuen zuzugreifen, wenn es jetzt mit Hilfe Spartas unter Aufopferung der doch unhaltbar gewordenen Machtstellung Athens erreichbar war? Einstweilen ging diese Partei mit den Gemäßigten zusammen, aber im Grunde war sie, nur in entgegengesetzter Richtung, ebenso radikal wie die extremsten Demokraten. Sobald die ersten Erfolge erreicht waren, [284] mußte die unüberbrückbare Kluft zwischen beiden Anschauungen hervortreten.

Mit diesen Parteibestrebungen durchsetzten sich überall die rein persönlichen Tendenzen. Die neumodische Bildung dominierte bei den Anhängern der Bewegung durchweg; manche von ihnen, wie Andron, Kleitophon, Aristoteles, hatten oft mit den Weisheitslehrern diskutiert, und vor allem Theramenes, ein Schüler des Prodikos, tat sich nicht wenig auf seine Gewandtheit und geistige Überlegenheit zugute, und Phrynichos und Antiphon nicht minder. Die Kulturentwicklung hatte dahin geführt, daß seine Geschicklichkeit und die unerschöpfliche Fülle seiner Auskünfte zur Schau zu stellen, die wichtigste Aufgabe des Politikers und das höchste Ziel des Ehrgeizes wird: wo es mehrere Wege gibt, wird man, wie Euripides in der Tragödie, immer den verschmitztesten wählen, um Freund und Feind zu überraschen und ihre Bewunderung zu erzwingen. Für eine Partei vollends, die die Alleinherrschaft gewinnen und die Masse der Ungebildeten vom Regiment ausschließen wollte, war es unumgänglich, daß sie auf diesem Wege ihre Berechtigung erwies, auch wenn sie wirklich von idealen Besinnungen geleitet war. Aber es gab auch nicht wenige Politiker, die unbedenklich die vollen Konsequenzen der neuen Erziehungslehre gezogen hatten und in ihrem Innern nichts anerkannten als den nacktesten Egoismus, den sie unter einem beliebigen Parteiprogramm kaum noch verhüllten. Unter den Genannten und ihrem Anhang werden gar manche gewesen sein, die so dachten, die sich der Bewegung nur anschlossen, weil der Wind umgesetzt hatte und sie jetzt als Aristokraten ihre Geschäfte machen wollten wie früher als Demokraten. Ein Mann dieser Art ist offenbar Peisandros gewesen, der jetzt ebenso skrupellos der Führer der extremen Oligarchie ward wie ehemals der der extremen Demokratie. Der Mann, der später die charakteristischste Gestalt dieser Gattung werden sollte, Kallaischros' Sohn Kritias, ein Schüler des Sokrates und zugleich ein Poet im Geiste des Euripides (vgl. Bd. V, 13), ist diesmal offenbar noch ganz hinter seinem Vater zurückgetreten.

Wie in der Stadt waren die reaktionären Tendenzen auch bei der Armee auf Samos weit verbreitet, allerdings kaum bei der [285] Flottenmannschaft, wohl aber bei den Landtruppen, den Feldherren und vor allem den durch die ununterbrochenen Liturgien schwer belasteten Trierarchen. Hier fanden sie um so mehr Boden, je klarer sich die Unmöglichkeit herausstellte, gegen die Feinde noch einen ernstlichen Erfolg zu erringen, solange ihnen die persischen Subsidien zur Verfügung standen. Diese Stimmungen benutzte Alkibiades; in geheimen Verhandlungen mit den einflußreichsten Männern erklärte er, mit der Demokratie, die ihn schändlich behandelt habe, wolle er nichts zu tun haben; wenn man aber die Verfassung ändere und ihn zurückberufe, werde er Tissaphernes und den König selbst auf Athens Seite hinüberführen. Diese Lockung wirkte. Der Menge des Schiffsvolkes, der man von Alkibiades' Forderungen und Verheißungen Mitteilung machte, war die Aussicht auf reichlichen Sold höchst willkommen, so daß sie das Weitere einstweilen geschehen ließ und sich ruhig verhielt; die Führer aber verbanden sich zu einer Verschwörung zum Umsturz der Demokratie. Nur Phrynichos wollte von den Plänen, mit denen man sich trug, nichts wissen; mit vollem Rechte betonte er, daß der König niemals die Peloponnesier fallen lassen und gar seinem alten Feinde Athen zuliebe bekämpfen werde, während Alkibiades die Verfassung ganz gleichgültig sei und er nur seine Rückkehr und Herrschaft erstrebe; für die Oligarchen aber komme es vor allem auf Einigkeit an, daher müsse man Alkibiades fernhalten. Überdies sei es töricht zu glauben, daß man durch eine Verfassungsänderung Athens Herrschaft werde retten können (s.S. 284). Dadurch kam er aber in eine unhaltbare Lage; seine Gesinnungsgenossen waren entschlossen, Alkibiades, auch wenn sie ihm mißtrauten, für ihre Ziele zu benutzen; sie schickten, im Nov. oder Dez. 412, Peisandros, der sich beim Heere befand, mit anderen Abgesandten nach Athen, um dort für ihre Sache zu wirken und zugleich den Strategen, der ihnen im Wege stand, zu beseitigen. Um sich zu retten und Alkibiades zu vernichten, verriet Phrynichos dessen Intrigen dem spartanischen Admiral. Astyochos, dem alles daran lag, die persischen Subsidien zu erhalten, machte davon Mitteilung an Tissaphernes und Alkibiades, und dieser setzte die athenischen Truppen durch ein Schreiben von dem Verrat ihres Feldherrn in Kenntnis. Da [286] erbot sich Phrynichos, um sich zu retten, dem Astyochos Samos und das attische Heer in die Hände zu liefern, machte aber dann selbst den Truppen von dem geplanten Handstreich der Spartaner Mitteilung und ließ Samos befestigen, ehe sie auf demselben Wege wie vorher durch Alkibiades davon Kunde erhalten konnten. So rettete er sein Leben und gewann einstweilen das Vertrauen des Heeres zurück.

Inzwischen hatten Peisandros und seine Genossen ihre Vorschläge in Athen mitgeteilt und zugleich auch hier die Verschwörung organisiert. Die Darlegung, daß es, um das Bündnis mit Persien zu erreichen, nötig sei, den Religionsfrevler Alkibiades zurückzuberufen und die bisherige Gestalt der Demokratie zu modifizieren, erregte allerdings großen Unwillen; aber Peisandros wußte die Entrüstung zu beschwichtigen, indem er so präzis wie möglich an jeden einzelnen der Opponenten die Frage stellte, ob er irgendeinen anderen Weg zur Rettung wisse. Als sie keinen angeben konnten, erklärte er, dann müsse man eben das einzige Heilmittel ergreifen, das sich biete, und die Verfassungsfrage dem Wohle des Ganzen unterordnen; in Zukunft, wenn die Verhältnisse sich gebessert hätten, könne man ja die bisherige Verfassung wiederherstellen. So rechtfertigte er zugleich den eigenen Übertritt zur Gegenpartei257. So schwer es dem Demos ankam, er stimmte zu, daß Peisandros mit neun anderen Gesandten die Vollmacht erhielt, mit Tissaphernes und Alkibiades zu verhandeln. Zugleich wurden Phrynichos und sein Gesinnungsgenosse Skironides abberufen und durch Diomedon und Leon ersetzt: Peisandros erklärte, Phrynichos sei unzuverlässig und unfähig; er trage die Schuld an der Katastrophe des Amorges. – Als dann freilich die Verhandlungen mit den Persern begannen, zeigte sich alsbald, daß Alkibiades seine Verheißungen nicht erfüllen konnte; im Ernst hatte Tissaphernes nie daran gedacht, auf Athens Seite überzutreten. Um seinen Mißerfolg zu maskieren, steigerte [287] Alkibiades die persischen Forderungen Schritt für Schritt. Die Abtretung Ioniens und selbst der vorliegenden Inseln wurde von den Gesandten bewilligt: als aber Alkibiades schließlich bei der dritten Zusammenkunft forderte, Athen solle konzedieren, daß der König eine Flotte baue und nach Gutdünken an alle Küsten seines Reiches entsenden dürfe, und damit die Aufhebung des Fundamentalartikels des Kalliasfriedens und den Verzicht Athens auf die Seeherrschaft verlangte, brachen sie die Verhandlungen ab. Kurz darauf schloß Tissaphernes den neuen Vertrag mit den Spartanern (s.S. 277, Februar 411).

So war die Hoffnung, der die oligarchische Bewegung ihren ersten Erfolg verdankte, gescheitert, ehe sie ans Ziel gelangt war. Aber bereits hatte man sich zu weit engagiert, um zurückzutreten; auch schien die Verfassungsänderung, die das Regiment in die Hände der durch den Krieg am meisten Belasteten bringen sollte, jetzt sicher erreichbar, wenn man nur energisch vorwärts ging. Infolge des Abbruchs der Verhandlungen mit Persien ging die Leitung der Bewegung in die Hände der Extremen über; auch Phrynichos trat jetzt, wo die ihm von Alkibiades drohende Gefahr beseitigt war, ganz auf ihre Seite. Eine schwüle Stimmung, gemischt aus Furcht und unbestimmten Hoffnungen, lag über Athen; die beiden aus diesem Jahre erhaltenen Komödien des Aristophanes, die Lysistrate (Lenäen, Anfang Februar 411) und die Thesmophoriazusen (Dionysien, Anfang April 411)258, zeigen drastisch die Not des Krieges und den drohenden Bankerott, die Sehnsucht nach Frieden und einem vernünftigen Abkommen mit Sparta, den Wunsch, die wüste Demagogie los zu werden und zu einer verständigen Politik zu gelangen, und daneben die Angst vor Verrat, vor der drohenden Persergefahr, vor Revolution und Tyrannis. Die Klubs arbeiteten währenddessen dem Umsturz kräftig vor. Mehrere der wichtigsten Gegner wurden durch Mord beseitigt, ohne daß man gegen die Täter eine gerichtliche Untersuchung wagte, darunter [288] Androkles, der populärste Demagoge und zugleich einer der Hauptgegner des Alkibiades (s.S. 214. 232). Die Menge, ohnehin geschwächt durch die große Zahl der Bürger, die jetzt auf der Flotte diente, war vollkommen terrorisiert; alles Vertrauen war geschwunden, da niemand wußte, ob nicht jeder andere der Verschwörung angehöre, wo so viele Männer, von denen man es nie für möglich gehalten hätte, sich als Teilnehmer an derselben enthüllten. Der Rat und die Probulen hatten die Leitung vollkommen verloren und ließen sich willenlos treiben. Auch unter ihnen hatten die Verschworenen Anhänger; ohne Widerspruch konnten sie ihre Anträge durchsetzen, die Opposition war durch die Furcht vor dem Dolch der unbekannten Mörder gelähmt. Auch auf Samos schienen die Verhältnisse günstig zu liegen; die Reste der im vergangenen Jahr überwältigten Aristokraten, etwa 300 an der Zahl, waren bereit, im gegebenen Moment loszuschlagen und in ihrer Gemeinde den Demos zu stürzen. So beschlossen Peisandros und seine Genossen, nicht länger zu zögern; ein Teil der zehn Gesandten sollte in die untertänigen Städte gehen und hier überall die Aristokratie ans Ruder bringen, er selbst mit dem Rest seiner Kollegen begab sich gegen Ende Mai 411 nach Athen, nachdem er unterwegs auf den Inseln, in Tenos, Andros, Karystos, die Demokratie gestürzt und eine Garde von 300 zuverlässigen Leuten um sich gesammelt hatte, die durch Ansiedler auf Ägina und 120 von den athenischen Oligarchen geworbene Griechen verstärkt wurde259.

In Athen ging man sofort nach Peisandros' Ankunft ans Werk260. Auf Antrag des Pythodoros wurde eine Kommission von 30 Männern einschließlich der Probulen gewählt, welche nach bestem Ermessen [289] bis zu einem bestimmten Termin Vorschläge für die Rettung des Staates machen sollten. Auf den festgesetzten Tag, den 14. Thargelion (8. Juni) 411, wurde die Volksversammlung vor die Tore auf den Kolonos berufen, um hier auf beengtem Raum die Beteiligung beschränken und die Anwesenden im Angesicht der Besatzung Dekeleas völlig terrorisieren zu können – vermutlich [290] wurde die Maßregel damit motiviert, daß man hier einen etwaigen Versuch der Feinde, Athen während der Verhandlungen zu überfallen, sofort bemerken könne. Auch ihre Schutztruppe hatten die Verschworenen herangezogen. Die Kommission beantragte zunächst, alle Strafbestimmungen gegen Anträge auf Verfassungsänderung aufzuheben, so daß jeder Athener ungehindert und straflos [291] mit seinen Vorschlägen hervortreten könne. Als das angenommen war, konnte Peisandros – die Kommission hatte zugestimmt, mit den übrigen Probulen auch Sophokles, der sich nachher damit rechtfertigte, es habe in der Notlage nichts Besseres gegeben – den entscheidenden Antrag einbringen. Er war möglichst im Sinne der konservativen Demokratie abgefaßt: alle Diäten sollten fortan aufgehoben sein, die Gelder nur für den Krieg verwertet werden, das [292] souveräne Volk aber solle bis zum Ende des Krieges aus den 5000 leistungsfähigsten Bürgern bestehen. Um das Verzeichnis derselben aufzustellen, sollte jede Phyle 10 Männer über 40 Jahre wählen, die vereidigt werden sollten, die Auswahl nach bestem Gewissen zu treffen. Bis die neue Verfassung ausgearbeitet sei, sollte jeder dieser Männer 3 weitere ernennen, und diese Vierhundert – die vorkleisthenische Zahl des Rates – sollten einstweilen die Ratsgeschäfte übernehmen. Die Anträge wurden ohne Debatte angenommen, die 100 Männer sofort gewählt – natürlich waren ihre Namen vorher bereits festgestellt, und die Phylen sagten ja dazu –; dann ging die Versammlung auseinander. Die Verschworenen aber rückten vor das Rathaus, forderten den alten Rat auf, es zu räumen, und zahlten ihm die Diäten für den Rest des Jahres. Auch hier wagte niemand Widerstand; der neue Rat der Vierhundert konnte ungehindert seinen Einzug halten. Damit waren die Verschworenen im Besitz der Regierungsgewalt in Athen.

Durch den Akt auf dem Kolonos hatte der attische Demos formell zugunsten der Minderheit der Besitzenden abgedankt mit der Reservation, nach Beendigung des Krieges die Souveränität der Gesamtbürgerschaft wiederherzustellen. Nur durch diese Formulierung hatte man die schweigende Zustimmung der Versammlung erreichen können. Aber die Leiter der Bewegung dachten nicht daran, mit diesen Verheißungen Ernst zu machen; das war nur der Köder für die Menge und für die überzeugten Anhänger der gemäßigten Demokratie. Wie bei jeder Revolution ging auch hier die Führung sofort in die Hände der Extremen über, und diese wollten die Regierungsgewalt, deren sie sich durch einen kaum verhüllten Staatsstreich bemächtigt hatten, nicht wieder fahren lassen. Zwar sorgten sie für die Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfes, in dem die Theorie sich frei ergehen und die absolute Gleichheit der Berechtigten voll durchgeführt werden konnte. Nach dem Muster der in Böotien bestehenden Verfassung (Bd. IV 1, 585) wurden alle Bürger über 30 Jahre, die zu den Fünftausend gehörten, in vier gleich starke Kollegien geteilt, deren jedes nach der durch das Los bestimmten Folge ein Jahr lang – natürlich ohne Diäten – die Regierung führen und alle höheren Beamten und Offiziere aus sich [293] ernennen sollte. Alle 5 Tage sollte eine Sitzung stattfinden, bei der ohne triftigen Grund kein Mitglied fehlen durfte. Das Charakteristischste bei diesem Entwurf ist, daß in ihm zugunsten der Gleichheit die Einheit und die Möglichkeit einer Kontinuierung der Geschäfte noch weit vollständiger ausgeschlossen ist als in der radikalen Demokratie. Volksversammlungen kennt er überhaupt nicht; der Träger der Souveränität wechselt von Jahr zu Jahr – bei wichtigen Anlässen erhielt der regierende Rat allerdings das Recht, sich durch Beisitzer zu ergänzen –, und selbst Stratege kann derselbe Mann nur alle vier Jahre werden, wenn seine Sektion gerade am Regiment ist. Aber abgesehen von einzelnen Bestimmungen über die Ämter, die man eingeführt hat, war dieser Entwurf auch gar nicht dazu da, praktisch verwirklicht zu werden; nach der Absicht der Führer sollte vielmehr das Interimistikum, der Rat der Vierhundert, die definitive Gestalt des Staates bleiben. Auch für dieses wurde eine Verfassung entworfen, die selbstverständlich auf den nominellen Souverän, die Fünftausend, alle gebührende Rücksicht nahm. Nur diese hatten das Recht der Gesetzgebung, nach Niederlegung ihrer Regierung (für die indessen eine Befristung wohlweislich nicht gesetzt war) sollten die Vierhundert gleichmäßig in die vier Sektionen verteilt werden261. Das machte sich auf dem Papier [294] sehr schön; einstweilen aber erhielten die Vierhundert das Recht, alle Beamten zu ernennen, auch die Strategen – nominell aus den Fünftausend, die zu dem Zweck zu einer Parade versammelt werden sollten, tatsächlich natürlich aus der eigenen Mitte –, sie zu vereidigen, ihnen ihre Befugnisse vorzuschreiben, ihre Rechenschaft entgegenzunehmen und überhaupt nach bestem Ermessen, ohne Kontrolle und ohne formelle Verantwortung, die Regierung zu führen. Das haben sie denn auch getan. Sie änderten die demokratische Verwaltung und die Gesetze, sie verurteilten einige der gefährlichsten Gegner zum Tode262, setzten andere gefangen oder schickten sie in die Verbannung, sie setzten 10 neue Strategen ein, die im Namen des Rats die Exekutive führen sollten, kurz sie schalteten vollständig souverän. Nur die Verbannten wagten sie nicht zurückzurufen, weil sie Alkibiades weder einschließen noch formell ausschließen wollten.

Ihr Ziel hatte die Reaktion einstweilen erreicht. Ob sie sich aber am Regiment werde behaupten können, darüber lag die Entscheidung in den auswärtigen Verhältnissen, die allein ihren Erfolg ermöglicht hatten; und hier ließ die Antwort nicht lange auf sich warten. Gleich nach Antritt des Regiments hatten die Vierhundert mit König Agis in Dekelea Friedensverhandlungen anzuknüpfen gesucht. Dieser aber sah gar keinen Grund, weshalb er Athen um seiner neuen Verfassung willen bessere Bedingungen gewähren solle, wo infolge der inneren Wirren die volle Niederwerfung des Gegners erreichbar schien. Es wies die Gesandten ab und ließ statt dessen ein starkes Heer aus dem Peloponnes kommen. Aber auch er hatte sich verrechnet. Als er gegen Athen vorrückte, fand er die Mauern besetzt, ja er erlitt durch den Ausfall eines Teils der Garnison eine Schlappe: wie zur Zeit der Schlacht bei Tanagra hatte auch diesmal in der Not der Bürgersinn sich mächtiger erwiesen als der Parteigegensatz. So zog Agis, als die Vierhundert die Verhandlungen erneuerten, mildere Saiten auf; er entließ das Heer und forderte die Gesandten auf, sich nach Sparta zu wenden. – Eine zweite Enttäuschung bereiteten die Bündner; statt Athen dankbar zu sein, [295] daß es sie von der bösen Demokratie erlöst habe, benutzten sie, wie Phrynichos vorausgesagt hatte, wo immer es möglich war, die Gelegenheit, um durch Anschluß an Sparta die volle Freiheit zu gewinnen. So ging vor allem Thasos, wo von Samos aus im Mai Dieitrephes die Demokratie gestürzt hatte, alsbald daran, seine Mauern wieder aufzubauen, und knüpfte mit den (vermutlich seit 463) im Exil lebenden Gegnern Athens und durch sie mit Sparta Verbindungen an; schließlich erklärte es offen den Abfall und nahm einen spartanischen Vogt Eteonikos auf263. – Am verhängnisvollsten jedoch war die Wendung, die inzwischen die Dinge auf Samos genommen hatten264. Gleichzeitig mit der Revolution in Athen hatte man auch hier den entscheidenden Schlag führen wollen; als Vorbereitung war wie dort Androkles so hier der ostrakisierte Hyperbolos als typischer Repräsentant der Demokratie unter Beihilfe des Strategen Charminos ermordet worden. Aber seine Kollegen Leon und Diomedon, die Nachfolger des Phrynichos (s.S. 287), Männer aus vornehmem Hause und bei der Demokratie in hohem Ansehen und eben deshalb Gegner der Oligarchie, merkten, was im Werke war, und trafen die nötigen Gegenmaßregeln, unterstützt von einer [296] Anzahl Trierarchen und Hopliten, vor allem von Thrasybulos, dem Sohne des Lykos, und Thrasylos und der Schiffsmannschaft, namentlich der des Staatsschiffes Paralos. Als die verschworenen samischen Aristokraten losschlagen wollten, stießen sie auf heftigen Widerstand und wurden überwältigt. Von den Vorgängen in Athen wußte man noch nichts; als die Paralos dort eintraf, das Geschehene zu berichten, wurde das Schiff festgehalten. Aber sein Führer Chaireas entkam und brachte eine arg übertreibende Darstellung von den jetzt in Athen herrschenden Zuständen und den Greueltaten der Oligarchen nach Samos zurück. Darauf brach beim Heer der Aufstand los. Mit Mühe wurden Gewalttaten verhindert – ebenso hat angesichts der Gefahr, die jeden Augenblick von Milet her hereinbrechen konnte, der samische Demos den aristokratischen Verschwörern Amnestie gewährt –; aber Mann für Mann – die oligarchisch Gesinnten konnten sich am wenigsten ausschließen – leistete das Heer dem Thrasybulos und Thrasylos den Eid, treu an der Demokratie festzuhalten und einmütig zusammenzustehen. Auch die Samier schlossen sich dem an. Die bisherigen Strategen wurden abgesetzt und neue erwählt, vor allem Thrasybulos und Thrasylos; man hatte das Zutrauen, im Besitz der Seemacht nach wie vor der feindlichen Flotte in Milet die Spitze bieten und zugleich Athen von der Zwingherrschaft befreien zu können. Vor allem aber setzte man seine Hoffnung auf Alkibiades und die von diesem verheißene persische Hilfe; Thrasybulos beantragte seine Rückberufung und ging selbst zu Tissaphernes, ihn zu holen. Dem Satrapen konnte es, seiner Politik entsprechend, nur erwünscht sein, mit beiden feindlichen Heeren in Beziehung zu stehen; Alkibiades aber, der eben noch den Sturz der Demokratie gefordert hatte, trug gar kein Bedenken, jetzt mit ihr zu paktieren. Er hatte jetzt die Gelegenheit, an die Spitze eines starken Heeres zu gelangen und sich eine selbständige Macht zu gründen; und er verstand es zuzugreifen. Er versicherte den Athenern, daß er ihnen Tissaphernes' Geldmittel und die Flotte, die dieser bei Aspendos sammle, zuführen werde. Daraufhin wurde er vom Heer zum Strategen erwählt. Man glaubte des Sieges schon sicher zu sein und forderte ihn auf, die Flotte sofort nach dem Piräeus zu führen und die Oligarchen niederzuwerfen. [297] Das lehnte er ab – es hätte den sofortigen Verlust der gesamten athenischen Besitzungen zur Folge gehabt –; statt dessen begab er sich sogleich zu Tissaphernes zurück, um sich diesem in seiner neuen Würde zu zeigen und zugleich bei ihm und den Athenern sein Ansehen zu mehren.

Die Vierhundert waren nicht in der Lage, irgend etwas gegen diese Entwicklung zu unternehmen. Als die Gesandten, die sie zum Heer geschickt hatten, sich endlich nach Samos wagten, fanden sie kaum Gehör. Sie erklärten, daß Chaireas falsch berichtet habe, daß in Athen durchaus keine Gewaltherrschaft bestehe, daß nicht Vierhundert, sondern Fünftausend, mehr als seit Jahren jemals an einer Volksversammlung teilgenommen hätten, die Herrschaft führten und alle der Reihe nach ans Regiment kommen sollten; daß man nicht daran denke, sich den Spartanern zu unterwerfen, werde durch das Verhalten bei Agis' Angriff erwiesen. Es war vergebens; das Heer wollte nichts von ihnen wissen, forderte vielmehr aufs neue ungestüm, sofort gegen den Piräeus geführt zu werden. Das hat Alkibiades, der soeben wieder zurückgekehrt war, mit Einsetzung seiner ganzen Autorität hintertrieben: man solle die Vaterstadt nicht bekämpfen, sondern friedlich zu gewinnen suchen und zunächst allein die Rettung des Reiches im Auge behalten. Den Gesandten erwiderte er, er sei mit der Herrschaft der Fünftausend und der Aufhebung der Diäten einverstanden, da man alsdann die Geldmittel für das Heer verwenden könne; die Vierhundert dagegen müßten abdanken und der alte Rat wiederhergestellt werden. Vor allem aber mahnte er dringend, sich nicht an Sparta zu ergeben; dann könne noch alles gut werden265. – Als diese Botschaft nach Athen kam, hatte hier die rückläufige Bewegung bereits begonnen. Von all den Verheißungen, um derentwillen man die Verfassungsänderung [298] hatte geschehen lassen, hatten die Machthaber keine einzige erfüllen können. Statt dessen mußten die Gemäßigten mitansehen, daß sie beiseite geschoben waren und die Vierhundert nichts taten, ihr Programm zu verwirklichen, sondern sich dauernd im Regiment, behaupten wollten. Vor allem aber traten all die Rivalitäten zutage, die bei derartigen Umwälzungen unvermeidlich sind; wer dabei mitgewirkt hatte und nun nicht den Einfluß und die Ämter erlangte, die er erstrebte, war unzufrieden und grollte den Machthabern. Und nun erfuhr man, daß eben das, was man hatte erreichen wollen, den Demokraten auf Samos zuteil ward: die Aussicht auf die Gewinnung Persiens durch den Einfluß des Alkibiades. So wurde die Parole, die dieser ausgegeben hatte, das Schlagwort der Opposition: Ersetzung der Vierhundert durch die Fünftausend und Abbruch der Verhandlungen mit Sparta. An ihre Spitze traten die Führer der Gemäßigten innerhalb der Vierhundert selbst, der Stratege Theramenes und der Taxiarch (Oberst einer Phyle) Aristokrates266. Sie hatten bisher die Politik ihrer Genossen eifrig unterstützt; jetzt aber sahen sie deutlich, daß die Sache der Oligarchie ausgespielt war. Alsbald kam es zwischen ihnen und den Führern der Extremen, Phrynichos, Peisandros, Antiphon, Aristarchos, zum offenen Bruch.

Die Verhandlungen mit Sparta waren inzwischen nicht weiter gediehen; vielmehr hatte die Mannschaft der Paralos, die die Gesandten nach Sparta hatte führen sollen, sie statt dessen den [299] Argivern, die natürlich mit den Demokraten auf Samos sympathisierten, als Hauptschuldige an der Umwälzung ausgeliefert. Jetzt, wo ihre Sache rettungslos verloren war, wenn sie nicht schleunigst und rücksichtslos die energischsten Maßregeln ergriffen, gingen Antiphon und Phrynichos selbst, mit zehn anderen, nach Sparta. Zugleich befestigten die Vierhundert die Landzunge Eetioneia, welche den Piräeus im Westen einschließt, um den Hafen in ihrer Gewalt zu haben; auch das große Getreidemagazin des Perikles wurde in die Befestigung einbezogen. Angeblich sollte die Anlage der Verteidigung gegen die Flotte von Samos dienen; Theramenes und seine Anhänger aber behaupteten, man wolle dadurch die Möglichkeit gewinnen, die Feinde in den Hafen einzulassen. So wuchs die Aufregung ständig, zumal als die Gesandten aus Sparta unverrichteterdinge zurückkehrten. Statt den Oligarchen Frieden zu gewähren, sammelten die Peloponnesier in dem lakonischen Hafen Las (westlich von Gythion) eine neue Flotte von 42 Schiffen, darunter eine Anzahl aus Italien und Sizilien. Der Verdacht, daß sie, im Einverständnis mit Phrynichos, in den Piräeus einlaufen solle, schien nicht unbegründet; wenn auf keine andere Weise zum Frieden zu gelangen war, wollten die Extremen, um ihr Leben zu retten, sich lieber auf jede Bedingung dem Feinde unterwerfen, als die Wiederherstellung der Demokratie dulden. Wie vorher zur Vorbereitung der Revolution, so bildeten sich jetzt Verschwörungen zum Zwecke der Restauration. Phrynichos wurde von gedungenen Fremden auf offenem Markte erschlagen, und einer der Mörder, der ergriffen wurde, war auch auf der Folter nicht zu bestimmten Aussagen über die Anstifter zu bringen267. Kurz darauf fuhr die feindliche Flotte nach Epidauros und begann Ägina zu verheeren (September 411). Da schien kein Zweifel mehr, daß die Gefahr unmittelbar [300] vor der Tür stehe; die beim Bau der Eetioneia beschäftigten Hopliten selbst – also in der Mehrheit gemäßigt gesinnte Männer –, von Aristokrates geführt, nahmen ihren Strategen Alexikles fest und begannen die Festungswerke zu demolieren. Die Machthaber, vor allem der Stratege Aristarchos, wollten von Athen aus mit Gewalt vorgehen; aber Theramenes und seine Gesinnungsgenossen traten zu den Insurgenten über. Der Bau wurde niedergerissen, die Forderung der Einsetzung der Fünftausend offen aufgestellt. Weitere Gewalttaten gelang es angesichts der gefahrvollen Lage zu vermeiden, ja Alexikles wurde freigelassen; aber am nächsten Tage rückten die Insurgenten vom Piräeus nach Athen selbst vor. Auch diesmal wurde der Bürgerkrieg verhindert; die Vierhundert erklärten sich bereit, endlich ihre eigentliche Aufgabe, die Ernennung der Fünftausend, zu erfüllen und diesen die Regierung zu übergeben. Auf einen der nächsten Tage wurde eine Volksversammlung im Dionysostheater angesetzt, in der die Versöhnung und die Neuordnung zum Abschluß gebracht werden sollte.

Als die Bürgerschaft zu dieser Versammlung zusammentrat, kam die Nachricht, daß die feindliche Flotte herannahe und schon an der Küste von Salamis sei. Da war kein Halten mehr; Theramenes' Beschuldigungen schienen offenkundig erwiesen. In Masse strömte alles Volk nach dem Piräeus, besetzte die Mauern und machte die Schiffe flott. Der spartanische Flottenführer Agesandridas hatte zweifellos gedacht, im günstigen Falle einen Überfall zu versuchen, und mag dazu von den Extremen ermuntert worden sein; aber sein eigentliches Ziel war nicht Athen, sondern Euböa, wo man den schon seit anderthalb Jahren geplanten Abfall jetzt endlich ins Werk setzen wollte. Als er die Vorbereitungen zur Gegenwehr sah, gab er den Angriff auf den Piräeus auf und fuhr nach Oropos. Ein Teil der athenischen Schiffe folgte ihm unter Führung des Thymochares und verband sich mit den in Eretria stationierten. Alles in allem waren es nur 36 Trieren gegen 42 feindliche; und sie mußten, so schlecht sie vorbereitet waren, in dem Sund zwischen Oropos und Eretria den Kampf aufnehmen. Der Ausgang war nicht zweifelhaft, um so mehr da die Eretrier, längst mit den Feinden in geheimer Verbindung, alles taten, um die Athener zu schädigen. 22 ihrer[301] Schiffe fielen den Peloponnesiern in die Hände, ein großer Teil der Bemannung wurde getötet oder gefangen. Die Folge war der Verlust ganz Euböas mit Ausnahme der athenischen Kolonie Oreos-Hestiäa und damit des Landes, aus dem Athen seit der Besetzung Dekeleas den weitaus größten Teil seines Bedarfs an Lebensmitteln gedeckt hatte268. Die Katastrophe, in unmittelbarer Nähe der Stadt und mitten in den heftigsten inneren Wirren, traf Athen noch vernichtender als der Untergang der Armee auf Sizilien; es kann, wie Thukydides ausspricht, kein Zweifel sein, daß die Feinde dem Krieg mit einem Schlage hätten ein Ende machen können, wenn sie sich sofort auf Athen geworfen und dadurch auch die Flotte auf Samos gezwungen hätten, ihre Stellung aufzugeben, um die Heimat zu retten. Aber die Spartaner hatten noch immer nicht gelernt, den Krieg im großen Stile zu führen; Alkibiades war nicht mehr bei ihnen, und gerade jetzt fehlte ihnen an entscheidender Stelle ein Mann wie Brasidas oder später Lysander. So haben sie sich auch diesmal den vollen Siegespreis entgehen lassen.

Mit der Niederlage von Eretria, Ende September 411, brach das Regiment der Vierhundert vollends zusammen. Von den Kompromittiertesten rettete sich, wer konnte, durch die Flucht, darunter Peisandros und Alexikles; der Stratege Aristarchos benutzte die Gelegenheit, um den Böotern noch das Grenzkastell Oinoë am Kithäron in die Hände zu spielen. Die übrigen traten auf die Seite [302] der Gegenpartei und suchten durch doppelten Eifer das Geschehene vergessen zu machen. Die Bürgerschaft traf die notwendigsten Verteidigungsmaßregeln; mit dem Heer auf Samos wurde Verbindung wiederhergestellt, die Verbannung des Alkibiades und der mit ihm Verurteilten auf Antrag des Kritias aufgehoben und er und seine vom Heer gewählten Kollegen als Feldherren anerkannt269. Die politische Leitung kam einstweilen in die Hände des Theramenes, und dieser konnte jetzt versuchen, die Ideale der gemäßigten Partei zu verwirklichen. Die Diäten blieben aufgehoben; ihre Wiedereinführung wurde unter Flüchen verpönt. Die Fünftausend wurden jetzt wirklich konstituiert, der Begriff aber dahin erläutert, daß sie alle waffenfähigen Bürger umfassen sollten; infolgedessen wuchs ihre Zahl tatsächlich auf Neuntausend. Die Regierung wurde dem demokratischen Rate der Fünfhundert zurückgegeben, der indessen jetzt wahrscheinlich durch Wahl, nicht durch das Los besetzt wurde. Eine Gesetzgebungskommission wurde beauftragt, die neue Verfassung auszuarbeiten270. Die Ärmeren ließen sich in der Notlage [303] des Staates für den Augenblick diese Ordnung gefallen; auch waren sie noch nicht organisiert, und im Kampf gegen die Vierhundert hatten sie gleichfalls die von Alkibiades und Theramenes ausgegebene Parole aufgenommen. So konnte auch ein umfassendes Strafgericht vermieden werden; wer freilich von den schuldigen Führern den Athenern in die Hände fiel, wurde vor Gericht gestellt und als Hochverräter hingerichtet, sein Vermögen eingezogen, sein Andenken verflucht, seine Gebeine über die Grenze gebracht, seine Nachkommenschaft für ehrlos erklärt. So Archeptolemos und Antiphon, trotz seiner glänzenden Verteidigungsrede271. Das gleiche geschah mit Phrynichos' Andenken; seinen Mördern wurden hohe Belohnungen zuerkannt. Wer nach Dekelea oder sonst zu dem Feinde geflohen war, wurde geächtet. Meist waren es Mitglieder der Vierhundert selbst, welche diese Anträge einbrachten, so Andron und Kritias; und Theramenes mußte sie dabei unterstützen. Bald folgten andere Anklagen gegen die Männer zweiten Ranges; das Sykophantengewerbe blühte wieder auf. Nicht wenige, wie z.B. Polystratos, wurden in schwere Geldbußen verurteilt. Andere gelang es dem Theramenes und seinen Genossen durch ihre Fürsprache zu retten272. Aber[304] von dem Makel, der durch seinen Parteiwechsel auf ihm ruhte, hat sich Theramenes nie wieder befreien können; er erhielt den Spitznamen der Kothurn, der Schuh, der auf beide Füße paßt.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2, S. 278-305.
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