Ewiger Jude

[166] Ewiger Jude. Die Hauptveranlassung zur Annahme eines ewigen Wanderers waren ohne Zweifel die Bibelstellen Matth. 16, 28 u. Joh. 21, 20 ff., welche man darauf deutete, dass Johannes die Wiederkunft Christi erleben werde. Man meinte, entweder sei er lebendig in das Grab gestiegen, wo er nur schlummere, oder er sei nur scheinbar gestorben und habe später die Gruft wieder verlassen; auch war die Ansicht verbreitet, Johannes werde erst zugleich mit Elias durch den Antichrist seinen Tod finden. Man hat auch Kunde von verschiedenen Betrügern, die sich für den Apostel Johannes ausgaben. Eine andere biblische Persönlichkeit kann nach der mittelalterlichen Sage den Tod nicht finden, nämlich jener Diener des Hohenpriesters Kaiphas, der Christo einen Backenstreich versetzte; die Sage identifiziert ihn mit Malchus, dem Petrus das Ohr abhieb, welches Christus wieder heilte. Er ist verurteilt, unter der Erde um die Säule zu laufen, an welche Christus vor seiner Kreuzigung gebunden wurde. In seiner Verzweiflung sucht er sich immer von neuem den Tod zu geben, indem er mit dem Kopf an die Säule stösst. Er kommt auch unter dem Namen Joseph vor. Mitbestimmend zur Entwickelung der Sage vom ewigen Juden war wahrscheinlich die apologetische Tendenz, Einwürfen der Juden und anderer Zweifler gegenüber, die Lehre von Christus durch Aussagen eines noch lebenden Zeitgenossen Christi zu unterstützen. Der älteste bis jetzt nachweisbare Beweis über jenen Joseph findet sich in den Flores historiarum des Roger von Wendower, gest. 1237, eines Mönches der Abtei St. Alban in England; derselbe erzählt, ein armenischer Erzbischof sei einmal nach St. Alban gekommen und habe folgende Nachricht über den ewigen Juden mitgeteilt: Der Jude Cartaphilus war Pförtner des Palastes im Dienste des Pilatus. Als nun die Juden Christus aus dem Palast schleppten, versetzte ihm der Pförtner unter dem Thor einen Schlag mit der Faust und sprach: »Gehe hin, Jesus, immer gehe schneller, was zögerst du?« Jesus sah sich um mit strengem Blicke und erwiderte: »Ich gehe, Du aber sollst warten, bis ich wiederkomme.« Der Pförtner war damals 30 Jahre alt, aber allemal, wenn er wieder 100 Jahre zurückgelegt hat, wird er von einer Schwäche ergriffen, fällt in[166] Ohnmacht, dann wird er wieder gesund und lebt wieder auf. Er hat sich von Ananias taufen lassen und den Namen Joseph erhalten, führt als Christ ein frommes, strenges Büsserleben, in der Hoffnung, dereinst begnadigt zu werden. Der Name Cartaphilus ist ohne Zweifel aus κάρτα φίλος »sehr geliebt« entstanden und erinnert an Johannes. Die Erzählung Rogers findet sich mit nur geringen Ergänzungen bei verschiedenen spätern Schriftstellern. In ein neues Gewand gekleidet, erscheint sie dann im Anfang des 17. Jahrh. zu einer Zeit, wo das christliche Europa in hohem Grade durch die doppelte Nachricht in Schrecken gesetzt war, dass der Antichrist erschienen sei und von Babylon, wo er geboren, seinen siegreichen Feldzug angetreten habe, und dass der jüngste Tag nahe sei. Im Jahre 1602 erschien nun anonym die »Kurtze Beschreibung und Erzählung von einem Juden mit Namen Ahasverus«, gedruckt zu »Leyden bei Christoph Creutzer«. Hierin erzählt der Verfasser, dass er und andere Studenten wiederholt von dem nachmaligen Bischof von Schleswig, Paul von Eitzen, vernommen, dass er im Jahr 1542 auf einer von Wittenberg (wo er studierte) nach Hamburg unternommenen Reise am letzten Orte in der Kirche einen Mann im Alter von ungefähr 50 Jahren getroffen, der ihm durch sein sonderbares Benehmen aufgefallen sei. Es war eine grosse Gestalt mit langen, über die Achseln herabhängenden Haaren, bekleidet mit zerfetzter Hose und einem Rock, über dem er einen bis auf die Füsse reichenden Mantel trug. Trotz des harten Winters erschien er in der Kirche barfuss. Auf Befragen hätte er sich für einen Schuhmacher aus Jerusalem, mit Namen Ahasverus ausgegeben, welcher von Christus, dem er auf dem Wege nach Golgatha eine kurze Rast vor seinem Hause verweigert, zu ewiger Wanderschaft verurteilt worden wäre. Die Druckbezeichnungen »Leyden« und »Christoph Creutzer« sind jedenfalls fingiert, ebenso auf schnell folgenden Ausgaben der Druckort »Bautzen bey Wolfgang Suchnach«, wie nicht minder der Name des Herausgebers folgender Drucke: »Chrysostomus Duduläus aus Westfalen«, ein bis jetzt noch nicht enträtseltes Pseudonym ist. Bald verbreitete sich das Büchlein in die Litteraturen fast aller europäischen Sprachen.

Einige Züge der Ahasverussage werden auf den Gott Wodan gedeutet: der ewige Jäger ist zum ewig Wandernden geworden; er trägt wie Wodan einen breiten Hut, einen grauen zerfetzten Mantel und Nagelschuhe, und zahlreiche Volkssagen haben die uralte Bedeutung dieses ewigen Juden erhalten. In der Schweiz heisst er auch Pilatus oder Pilger von Rom. Als er das erste Mal in den Winkel des Rheines kam, wo jetzt Basel steht, fand er einen schwarzen Tannenwald, das zweite Mal ein breites Dornengestrüppe, das dritte Mal eine vom Erdbeben zerrissene grosse Stadt. Auch über die Grimsel und das Matterjoch ist er mehreremal gekommen und hat bei seinem ersten Hinübersteigen nichts als Weinberge gesehen, wo jetzt Gletscher und Schneefelder sind. Des Juden Stecken und Schuhe wurden als Rarität in der öffentlichen Bibliothek zu Bern aufbewahrt. Grässe, die Sage vom ewigen Juden, Dresden, 1844. – Wolf, Beiträge zur Mythol. I. – L. Neubaur, Die Sage vom ewigen Juden. Leipzig 1884.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 166-167.
Lizenz:
Faksimiles:
166 | 167
Kategorien: