Geometrischer Kalkül

[392] Geometrischer Kalkül, neuerdings gebräuchliche, zusammenfassende Bezeichnung für gewisse, hauptsächlich von Möbius, Graßmann und Hamilton ausgebildete Methoden, geometrische Größen, wie Strecken von bestimmter Länge und Richtung (sogenannte Vektoren), Punkte, Gerade, Ebenen u.s.w., unmittelbar der Rechnung zu unterwerfen, statt, wie es in der analytischen Geometrie geschieht, auf dem Umwege der Einführung von Koordinaten. Das allgemeinste, aber trotzdem einfachste und für die Anwendung in der Geometrie, Mechanik, Physik u.s.w. geeignetste der vorhandenen Systeme ist Graßmanns Ausdehnungslehre [1] (Lehre von den mit Ausdehnungen begabten oder extensiven Größen) [2]–[9].

Die geometrische Addition von Strecken – schon 1797 von Caspar Wessel [13] aus der Addition komplexer. Zahlen abgeleitet – ist allgemeiner bekannt geworden. Sie geschieht, indem man die gegebenen Strecken ohne Aenderung ihrer Länge und Richtung stetig aneinander fügt; die geometrische Summe ist dann gleich der Strecke vom Anfangspunkt der ersten gegebenen Strecke nach dem Endpunkte der letzten. Die von Möbius (1827) [14] herrührende Addition von Punkten mit bestimmten Zahlkoeffizienten (Massen, Gewichten) erfolgt nach derselben Regel wie die Zusammensetzung von Massenpunkten zu ihrem Massenmittelpunkt (Schwerpunkt). Punkt- und Streckenrechnung stehen dadurch in Zusammenhang, daß jede Strecke gleich der Differenz aus ihrem Endpunkt und Anfangspunkt (beide mit dem Koeffizienten 1 versehen) gesetzt werden kann. Linienteile oder Geradenstücke, auch Stäbe genannt, d.h. Strecken von bestimmter Länge und Richtung, die (wie in der Statik starrer Körper Kräfte) an ihre Geraden gebunden sind, werden addiert, wie man Kräfte zu ihrer Resultante zusammensetzt, u.s.w.

Unter den geometrischen Multiplikationen sind die wichtigsten die innere, von der gewöhnlichen sich nur dadurch unterscheidend, daß bei ihr ein Produkt verschwinden kann, ohne daß einer der Faktoren Null ist, und die äußere, bei der irgend zwei Faktoren nur mit Zeichenwechsel vertauscht werden dürfen, z.B. [b a] = – [a b] ist, und ein Produkt mit zwei gleichen Faktoren immer verschwindet, beide von Graßmann (1844) eingeführt. So ist das innere Produkt zweier Strecken gleich dem Produkt aus ihren absoluten Längen und dem cos des von ihren Richtungen gebildeten Winkels, das äußere Produkt gleich dem durch diese Strecken als anstoßende Seiten bestimmten Parallelogramm nach Inhalt, Sinn und Stellung seiner Ebene, dasjenige dreier Strecken gleich dem durch dieselben als anstoßende Kanten bestimmten Parallelepiped nach Inhalt und Vorzeichen; ferner bei Punkten mit dem Koeffizienten Eins das äußere Produkt zweier Punkte gleich dem durch sie begrenzten Geradenstück nach Länge, Richtung und Lage seiner Geraden, das äußere Produkt dreier Punkte gleich einem Ebenenstück in der Verbindungsebene der Punkte mit einem Inhalt gleich dem doppelten Inhalt des Dreiecks, das die Punkte zu Ecken hat, oder in andrer Auffassung: das äußere Produkt zweier oder dreier Punkte ist die Verbindungsgerade bezw. -ebene mit einem bestimmten Koeffizienten; das äußere Produkt von vier Punkten gleich einem Raumteil vom sechsfachen Inhalt des von ihnen gebildeten Tetraeders mit bestimmtem Vorzeichen u.s.w.

Hamiltons Quaternionenkalkül [15], [16] hat seinen Namen von eigentümlichen, Quaternionen genannten, weil aus vier Einheiten 1, i, j, k abgeleiteten komplexen Größen; er operiert nur mit Vektoren (nicht mit Punkten u.s.w., s. aber [16]) und hat einige Berührungspunkte mit der Ausdehnungslehre, aber schwerfällige Bezeichnungen und Rechnungsregeln, weshalb er von vielen seiner früheren Anhänger zugunsten der Ausdehnungslehre aufgegeben worden ist.

Von den unter [2]–[6] genannten Lehrbüchern ist [2] zur ersten Einführung bestimmt, [3] beschränkt sich im Gegensatz zu den übrigen auf die ebene Geometrie, [4] enthält zugleich einen kurzen Abriß der deduktiven Logik, ausführlicher [8], [6] ist wegen darin enthaltener Unrichtigkeiten mit Vorsicht zu benutzen. Zur Orientierung geeignet und mit ausführlichen Literaturangaben versehen ist [7]. Die Systeme von Heaviside [10] und Gibbs [11] stellen[392] eine Annäherung des Quaternionenkalküls an Graßmanns System dar; zur Einführung in diese Auffassung (soweit es sich um Vektorenrechnung handelt) ist [12] geeignet. [16] sucht auch die Punktrechnung zu berücksichtigen.


Literatur: [1] Graßmann, H., Die lineare Ausdehnungslehre, Leipzig 1844, 2. Aufl., 1878; Ders., Die Ausdehnungslehre, Berlin 1862. Das erstere Werk, mehr philosophisch abgefaßt, enthält noch nicht das ganze System. Beide zusammen bilden, mit wertvollen Zusätzen versehen, den ersten Band von H. Graßmanns gesammelten mathematischen und physikalischen Werken, herausgegeben von Friedrich Engel, Leipzig 1894/96. – [2] G. Peano-A. Schepp, Die Grundzüge des geometrischen Kalküls, Leipzig 1891. – [3] Schlegel, V., System der Raumlehre, 2 Teile, Leipzig 1872/75. – [4] Peano, G., Calcolo geometrico secondo l'Ausdehnungslehre di H. Graßmann, Torino 1888; – [5] Hyde, E.W., The directional calculus based upon the methods of Hermann Graßmann, Boston U.S.A. 1890. – [6] Kraft, F., Abriß des geometrischen Kalküls, Leipzig 1893. – [7] Schlegel, V., Die Graßmannsche Ausdehnungslehre, ein Beitrag zur Geschichte der Mathematik in den letzten fünfzig Jahren, Leipzig 1896 (Abdruck aus der hist.-lit. Abteil, der Zeitschr. f. Math. u. Physik, 41. Jahrg., 1896). – [8] Whitehead, A.N., A treatise on universal algebra, Bd. 1, Cambridge 1898. – [9] Jahnke, E., Vorlesungen über Vektorenrechnung, Leipzig 1905. – [10] Heaviside, O., Electromagnetic theory, Bd. 1, 3. Kap., London 1891/92. – [11] Gibbs, J.W., u. Wilson, E.B., Vector Analysis, New York 1901. – [12] Gans, R., Einführung in die Vektoranalysis, Leipzig 1904. – [13] Wessel, Caspar, Essai sur la représentation analytique de la direction. Traduction du mémoire intitulé: Om Directionens analytiske Betegning, publié par l'Académie Roy. des Sc. et des Lettres de Danemark, Copenhague 1897. – [14] Möbius, A.F., Der barycentrische Calcül, Leipzig 1827 (Gesammelte Werke, Bd. 1, Leipzig 1885). – [15] Hamilton, W.R., Lectures on quaternions, Dublin 1853; Ders., Elements of quaternions, London 1866 (deutsch von P. Glan, Leipzig 1882/84). – [16] Joly, Ch. J., A manual of quaternions, London 1905.

Mehmke.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 4 Stuttgart, Leipzig 1906., S. 392-393.
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