Atmosphärische Ebbe und Flut

[52] Atmosphärische Ebbe und Flut – Da die Atmosphäre denselben Anziehungskräften von Sonne und Mond unterworfen ist wie die festen und flüssigen Teile der Erde, so ist zu erwarten, daß die Erscheinung der Gezeiten ebenso wie auf den Weltmeeren auch in der Atmosphäre auftreten wird. Da nun zur Zeit der Syzygien die Sonnenflut mit der Mondflut und zur Zeit der Quadraturen mit der Mondebbe zusammenfällt, so müßte der Barometerstand zur Zeit der Syzygien vergrößert und zur Zeit der Quadraturen verkleinert werden. Angestellte Beobachtungen (die ältesten 1815–27 von Bouvard in Paris) haben ergeben, daß Ebbe und Flut der Atmosphäre unmerklich klein ist. Andre Beobachter stellten eine deutlich ausgesprochene Schwankung des Barometerstandes von ca. 0,1 mm fest, bei der ein Marimum bei der Kulmination des Mondes und ein Minimum bei seinem Auf- oder Untergang auftrat. Der Grund dafür, daß die Geleiten der Atmosphäre an einigen Orten beobachtet werden und an andern nicht, liegt in dem Umstand, auf den schon Laplace hingewiesen hat, daß durch die peri adischen Heb ungen und Senkungen des Weltmeeres die untern Luftschichten abwechselnd zusammengedrückt werden und sich wieder ausdehnen. Daher muß das Barometer bei der Flut steigen und bei der Ebbe fallen und auf diese Weise Schwankungen zeigen, die entsprechend dem Gange des Mondes auftreten; die höchsten bisher berechneten Schwankungen übersteigen nicht 0,7 mm. Weil sich diese Schwankungen des Meeres nur auf die dem Meere benachbarten Luftmassen übertragen, so können sie auch nur in der Nähe des Meeres beobachtet werden. Trotzdem die Größe der atmosphärischen Ebbe und Flut einen unmerklichen Wert besitzt, hat doch Falb die Flutbewegung der Atmosphäre zum Aufstellen von Wetterprognosen benutzt. Die Tage, an denen außergewöhnliche Witterungserscheinungen zu erwarten sind, nennt er »kritische«; sie fallen alle auf einen Voll- oder Neumond und werden nach der Größe ihrer Wirkungen in drei Klassen geteilt, je nachdem noch andre »Flutfaktoren« auf diesen Voll- oder Neumond oder in die Nähe desselben fallen. Diese Theorie läßt sich wissenschaftlich nicht begründen; auch ist von verschiedenen Seiten nachgewiesen, daß die Wettervorhersagen mit den tatsächlichen Verhältnissen sehr selten stimmen.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1905, S. 52.
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