Besessene

[754] Besessene (Obsessi, Daemoniaci, auch Lunatici, »von einem bösen Geist oder Dämon in Besitz Genommene«), zur Zeit Jesu Bezeichnung einer besonders in Galiläa häufig vorkommenden Klasse von Kranken, die an einer Art Epilepsie oder fallender Sucht litten. Manche Krankheiten, die wir nach dem heutigen Stande der Wissenschaft Wahnsinn oder Tob sucht nennen würden, erklärte das nachexilische, vom Parsismus beeinflußte Judentum aus dem Vorhandensein böser Geister. Derselben Ursache wurden dann auch mit einer Trübung des Geisteslebens verbundene Krankheiten und Gebrechen zugeschrieben, wie Epilepsie, Mondsucht, Stummsein, Lähmung u. dgl. Aus Josephus wissen wir, wie verbreitet diese den Lehren Moses' und der Propheten entgegenstehende Vorstellung war, die nicht nur in jüdischen Kreisen vorherrschte, sondern auch von der alexandrinischen Theologie und durch sie im Neuplatonismus verwendet wurde. Der Widerspruch, den unsre heutige Wissenschaft gegen die ganze Vorstellung erhebt, darf uns nicht blind machen gegen die Tatsache, daß die neutestamentlichen Schriftsteller den Glauben an Besessenheit durchweg teilen. Ebenso geht Jesus selbst ganz unbefangen auf die Ansichten der Kranken und der Pharisäer ein; nur greift er nicht, wie diese, zu magischen Beschwörungen, sondern übt durch die Macht seiner Persönlichkeit eine rein geistige Wirkung auf die Kranken aus, die gerade deshalb um so mehr als eine wunderbare, seine Messiaswürde bezeugende erscheinen mußte. Auch in den Zeiten mittelalterlichen Aberglaubens hielt man einen großen Teil von Irren für B., wofür die Hexenprozesse des 13.–15. Jahrh. zahllose Beispiele liefern. Noch 1573 erlaubte ein englischer Parlamentsbeschluß, auf diejenigen Jagd zu machen, die sich für Werwölfe (s. d.) ausgaben und in den Wäldern umherirrten. Bis in die neueste Zeit fehlt es übrigens nicht an Theologen, die, am Buchstaben der Bibel hangend, ein Besessensein der Menschen durch Dämonen behaupten zu müssen glauben und sie durch Erfahrungsfälle und deren mystische oder spekulativ-psychologische Deutung erweisen wollen (I. Kerner u. a.). Vgl. Delitzsch, Biblische Psychologie (2. Aufl., Leipz. 1861) und Pieper, Das Verhältnis des Besessenseins zum Irresein (in den »Theologischen Arbeiten aus dem rheinischen wissenschaftlichen Predigerverein«, Bd. 10 und 11, Bonn 1891).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1905, S. 754.
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