Neuplatonismus

[570] Neuplatonismus (Neoplatonismus, neuplatonische Philosophie), die letzte Form der griechischen Philosophie, die eine Verschmelzung hellenischer und orientalischer Weltanschauung darstellt und ebensoviel Religion wie Philosophie ist. Der N. schloß sich zunächst der durch Aristoteles ergänzten Ideenlehre Platons an, verband aber damit die orientalische Emanationslehre (s. Emanation), laut welcher das Niedere durch Ausströmung aus dem Höhern hervorgegangen sein sollte, und die Ekstase, in der das Göttliche nicht sowohl mit der Vernunft erkannt, als mit dem Gefühl und mit einem übervernünftigen Organ unmittelbar angeschaut und gleichsam erfaßt wurde. Höchster Urgrund ist die Gottheit, aus der als oberste Ausströmung der Logos, Sitz und Träger der Ideen, aus diesem, insofern er in Tätigkeit übergeht, die Weltseele und durch deren den Stoff nach den in den Ideen gegebenen Musterbildern gestaltende Wirksamkeit die Welt der sogen. Wirklichkeit oder der Sinnendinge hervorgeht. Die menschlichen Seelen sind, wie die Weltseele, aus dem göttlichen Logos geboren, gehören aber, weil sie durch irdische Lust aus ihrem ursprünglich göttlichen Leben zum zeitlichen Dasein herabgesunken sind, nicht mehr allein dem Geisterreich, sondern zugleich der Sinnenwelt an. Durch Losreißung von aller Sinnlichkeit sind sie imstande, das Göttliche schon hier in geistiger Anschauung durch die Ekstase sich anzueignen. Das Böse gilt dem N. nur als das vorübergehend Unvollkommene, als das vom Urwesen in den entferntesten Kreisen Erzeugte. Die Götter der polytheistischen Religionen wurden für die persönlichen Kräfte des göttlichen Weltlebens erklärt, und zwar teils für überweltliche, teils der Welt als Herrscher vorgesetzte oder als Diener mit ihr verbundene. Sie wurden gedacht als dem höchsten Urgrund untergeordnet, über jede Leidenschaft und jeden äußern Einfluß erhaben; die Mythen aber erhielten eine allegorische Auslegung. Der den N. charakterisierende ekstatische Enthusiasmus war eine Frucht der in jener Zeit weitverbreiteten Sehnsucht, bis zu dem Punkt vorzudringen, wo nach pantheistischer Auffassungsweise das Selbstbewußtsein eins wird mit dem Gottesbewußtsein und das Zeitliche in dem Ewigen ausgeht. Dieser phantastischen Richtung entsprach die Gutheißung der Mantik und Magie, die man aus dem notwendigen Zusammenhang aller Erscheinungen kraft der Einheit des Weltprinzips herzuleiten suchte. Begründer des N., als dessen Vorläufer der Jude Philon (s. d.) und Numenios (s. d.) von Apameia anzusehen sind, war Ammonios Sakkas (175–242, s. Ammonios 1), der im 3. Jahrh. in Alexandria lehrte, dessen Schüler Plotinos (s. d.), Erennius, Origenes (s. d.), Olympios und Longinos waren. Des Plotinos bedeutendste Schüler waren Amelios, Theodoros von Asine, vor allen aber Porphyrios (s. d.) von Tyros (233–305). Letzterer bildete den Übergang zu der zweiten Schule, der syrischen, des Jamblichos (s. d. 2), die das orientalische Element der Theurgie und Dämonenlehre zu einer das griechische überwuchernden Herrschaft gelangen ließ. Zahlreiche Schüler verbreiteten die Lehre des Jamblichos besonders über den Orient, so Ädesios und Eustathios aus Kappadokien, Dexippos u.a. Eine neue Hoffnung ging dem N. auf unter dem Kaiser Julianus (s. d.), um den sich namhafte Philosophen scharten (der jüngere Jamblichos aus Apameia, Chrysanthios aus Sardes, Maximus aus Ephesos, Sallustius etc.), mit dessen Tod aber die Hoffnungen des N. wieder, und zwar auf immer, schwanden. Die dritte und letzte Schule, die athenische, war von Plutarchos aus Athen und don Syrianos aus Alexandria gegründet und von diesem auf Proklos (412–485, s. d.) übergegangen, den größten Dialektiker der neuplatonischen Schule. Proklos' Nachfolger war sein Schüler Marinos von Neapolis in Palästina, dem Zenodotos und Isidoros von Alexandria folgten. Das letzte Haupt des Platonismus in Athen war der scharfsinnige Damaskios von Damaskus. 529 wurde durch Kaiser Justinian dem Platonismus ein Ende gemacht; die Schule in Athen ward geschlossen, die Vorträge über Philosophie wurden verboten. Zu Alexandria scheint indes noch längere Zeit Platonische Philosophie gelehrt worden zu sein. Noch einmal erwachte der Platonismus in der Umbildung, die er durch die Neuplatoniker erhalten hatte, am Ende des 15. Jahrh. Der größte Geist in dieser neuen, von den Mediceern zu Florenz begünstigten italisch-platonischen Philosophie war Marsilius Ficinus (s. Ficinus). Vgl. Fichte, De philosophiae novae Platonicae origine (Berl. 1818); Simon, Histoire [570] de l'école d'Alexandrie (Par. 1843–45, 2 Bde.); Vacherot, Histoire critique de l'école d'Alexandrie (das. 1846–51, 3 Bde.); Whittaker, The Neo-Platonists (Oxf. 1901); Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 1 (3. Aufl., Freib. 1894).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 570-571.
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