Orĭent

[116] Orĭent (lat.), zunächst die Himmelsgegend, wo die Sonne scheinbar ausgeht, der Osten oder Morgen; dann soviel wie Morgenland, im Gegensatz zum Abendland (s. Okzident). Obwohl der Begriff O. im Laufe der Geschichte je nach dem Standpunkte des Betrachtenden und der Weite des Horizonts verschiedene Wandlungen namentlich hinsichtlich der Ausdehnung erfahren mußte, ist es im ganzen üblich geblieben, die alte Welthauptstadt Rom als Ausgangspunkt zu nehmen. Unter dem alten O. versteht man gewöhnlich Vorderasien und Ägypten nebst den Einflußgebieten der von dort ausstrahlenden Kulturen; vgl. die von der Vorderasiatischen Gesellschaft in Berlin durch Hugo Winckler und Alfred Jeremias herausgegebenen allgemein verständlichen Darstellungen u. d. T.: »Der alte Orient« (Leipz. 1899 ff.), die »Mitteilungen der Vorderasiatischen Gesellschaft« (Berl. 1896 ff.) und die u. d. T.: »Ex oriente lux« ebenfalls von Hugo Winckler herausgegebenen Untersuchungen (Leipz. 1904 ff.). Seit der Teilung des Römischen Reiches (395 n. Chr.) verstand man dann unter O. meist das Oströmische Reich (s. d. und Griechische Kirche) oder Byzanz. Doch erhielt der Begriff Orientalen mit der gewaltigen Ausbreitung des von Arabien ausgehenden Islams bald einen auch Nordafrika, ja vorübergehend selbst Spanien mit umfassenden Umfang; und noch jetzt begegnet man neben der engern Definition (O. soviel wie Kleinasien, Syrien und Ägypten; s. auch Levante) oft der Anschauung, daß z. B. Marokko und der mohammedanische Sudân dem O. zuzurechnen seien. Nach dem Aufhören der Kreuzzüge erhielten die Vorgänge im Osten einen neuen Gehalt durch das Herüberkommen der Osmanen nach Europa und ihre Eroberung Konstantinopels. Mit dem Nachlassen der türkischen Macht im 18. Jahrh. trat die »Orientalische Frage« (s. d.) auf. Darauf blieb aber das 19. Jahrh. mit seiner erdumspannenden Kolonisation der Großmächte nicht stehen; vielmehr begreift man gegenwärtig unter O. auch Ostasien, das man zur genauern Unterscheidung vom eigentlichen O. auch den äußersten Osten (franz. Extrême orient) zu nennen pflegt. Über das Studium der im O. gesprochenen Sprachen s. Orientalische Philologie. Über die Geschichte des alten Orients vgl. die Werke von F. Lenormant, Ed. Meyer, Hommel, Krall (s. diese Artikel); ferner De Moni, Histoire critique de la créance et des coûtumes des nations du Levant (Frankf. 1684); Zerboni di Sposetti, Der O. und seine kulturgeschichtliche Bedeutung (Wien 1868); M. Busch, Die Urgeschichte des Orients bis zu den medischen Kriegen (2. Aufl., Leipz. 1871–72, 3 Tle.); Welzhofer, Geschichte des Orients und Griechenlands im 6. Jahrhundert v. Chr. (Berl. 1892); Bastian, Die wechselnden Phasen im geschichtlichen Sehkreis (das. 1900, 4 Hefte); »Beiträge zur Kenntnis des Orients« (hrsg. von H. Grothe, Halle 1904 ff.) und die Literatur zu den oben berührten einzelnen Ländern und Völkern. – In der Freimaurerei bezeichnet O. (franz. Grand-Orient) die versammelte Loge, als von der das Licht ausgeht, und der nach Osten gerichtete erhöhte Sitz des Meisters vom Stuhl.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 15. Leipzig 1908, S. 116.
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