Weltanschauung

[523] Weltanschauung, der Inbegriff der Ansichten, die man über Wesen und Bedeutung des Weltganzen (die Menschheit inbegriffen) hegt. Im einzelnen kommt dabei in erster Linie in Betracht, wie man sich die substantielle Grundlage oder Ursache alles Seins und Geschehens denkt; ob man mit dem Nihilismus alles für Schein erklärt, oder mit dem Idealismus das Bewußtsein oder mit dem Realismus das Sein als das Ursprünglichere ansieht. Ob man ferner mit dem Akosmismus die Welt (das endliche, bedingte Sein) für Schein, Gott (das Unendliche, unbedingte Wesen) für allein wirklich erklärt, oder mit dem Atheismus das Gegenteil behauptet. Erkennt man Gott und Welt als real an, so fragt sich wieder, ob man mit dem Theismus und Deismus der Gottheit eine geschaffene Welt gegenüberstellt, oder mit dem Pantheismus Gott in (nicht neben) der Welt existieren läßt. Hinsichtlich der Auffassung der Welt unterscheiden sich der Monismus, der sie als eine Einheit ansieht, vom Pluralismus, der sie auf eine Vielheit von Einzelwesen zurückführt, der Materialismus, der das Geistige aus dem Materiellen ableitet, vom Spiritualismus, der umgekehrt verfährt. Weitere Unterschiede entspringen aus der Auffassungsweise des die Gesamtheit alles einzelnen Geschehens umfassenden Weltprozesses: ob man sich denselben nach vorwärts oder rückwärts als begrenzt oder unbegrenzt denkt, ob man ihn als das Werk blind wirkender Kräfte, somit als zweck- und ziellos (mechanische W.) oder als das Werk einer außer- oder innerweltlichen Vernunft, somit als die sinnvolle Entwickelung eines Planes oder Zweckes betrachtet (teleologische W.), welch letzterer dann wieder als ein negativer (Aufhebung des Seins: metaphysischer Pessimismus) oder als ein positiver (Herausbildung einer höhern Daseinsform: metaphysischer Optimismus) gedacht werden kann. Endlich muß im Rahmen einer ausgebildeten W. auch die Menschheit gebührende Berücksichtigung finden. Je nachdem der Mensch als ein mehr oder weniger bedeutsames Glied des Weltganzen, oder umgekehrt die Welt nur als der Schauplatz menschlicher Betätigung betrachtet wird, unterscheiden sich die kosmozentrische und die anthropozentrische W. Auf dem Standpunkte der erstern kann der Mensch ebensowohl (im Sinne mancher Anhänger des Darwinismus) als ein zufälliges Naturprodukt, das geschichtliche Leben als eine bedeutungslose Episode im Weltprozeß, als auch (im Sinne einer teleologischen Naturbetrachtung) jener als das Endglied der universellen Entwickelungsreihe, dieses als die bewußte Fortsetzung des (vorher unbewußten) Weltprozesses aufgefaßt werden. Auf dem Standpunkte der letztern gelten zumeist Menschheitsleben und Naturleben als spezifisch verschieden, indem der Mensch als Glied einer höhern, rein geistigen Welt über die Natur gestellt wird (Dualismus).

Im engern Sinne versteht man unter W. auch eine einheitliche Auffassung bloß der menschlichen Dinge, d. h. eine zusammenhängende Summe von Ansichten[523] über Herkunft, Wesen und Bestimmung des Menschen, über die Triebkräfte und die allgemeine Richtung und das Endziel des geschichtlichen Lebens. Hier steht der religiösen W., die den Menschen in ein lebendiges Verhältnis zu Gott setzt, die irreligiöse gegenüber, die ihn ganz auf sich selbst stellt; der individualistischen, welcher der Einzelne alles, die Gesamtheit nichts gilt, die sozialistische, welche die entgegengesetzte Anschauung hat; der idealistischen, die an die Wirksamkeit idealer Mächte im Menschenleben glaubt, die realistische, die alles von den Naturtrieben und praktischen Interessen beherrscht sein läßt; der optimistischen. die an ein Fortschreiten der Gesittung und Kultur glaubt, die pessimistische, die dasselbe leugnet, etc. Wie schon aus dem Nebeneinanderbestehen der verschiedenartigsten Weltanschauungen (insbes. in der Gegenwart) und dem beständigen, die ganze Geistesgeschichte durchziehenden Kampfe der entgegengesetzten unter ihnen hervorgeht, läßt sich keine als die allein richtige logisch erweisen, weil keine ein einfacher Ausdruck der tatsächlichen Wirklichkeit, sondern jede das Resultat einer mehr oder weniger willkürlichen, durch subiektive Motive bestimmten Deutung der Tatsachen ist. Die streng an das Gegebene sich haltende wissenschaftliche Forschung liefert zwar eine Fülle einzelner Züge für das geistige Bild des Weltganzen, aber sie gelangt, wegen der Unendlichkeit des zu verarbeitenden Tatsachenmaterials, niemals zum Abschluß. Wenn wir also doch einerseits durch das theoretische Einheitsbedürfnis unsrer Vernunft, anderseits durch die praktische Forderung, unser eignes Streben in eine bestimmte Beziehung zum Ganzen zu bringen und ihm dadurch feste Anknüpfungs- und Zielpunkte zu verschaffen, dazu angetrieben werden, uns eine umfassende W. zu gestalten, so ist hierzu unter allen Umständen die Mitwirkung einer schöpferischen Phantasie- und Denktätigkeit erforderlich; wird dabei das durch die Wissenschaft herbeigeschaffte Material nach Möglichkeit mit verarbeitet, so erhalten wir eine wissenschaftlich begründete W. im Gegensatz zu der lediglich durch die Phantasie erzeugten mythologischen und der durch das reine Denken konstruierten spekulativ-philosophischen. Vgl. Eucken, Die Lebensanschauungen der großen Denker (7. Aufl., Leipz. 1907) und Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt. Neue Grundlagen einer W. (2. Aufl., das. 1907); Busse, Die W. der großen Philosophen der Neuzeit (3. Aufl., das. 1907); Adickes, Charakter und W. (Tübing. 1905); Frobenius, Die W. der Naturvölker (Weim. 1898).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 523-524.
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