Pessimismus

[642] Pessimismus (v. lat. pessimus, der Schlechteste) ist als Gegenteil des Optimismus (s. d.) im allgemeinen die Neigung, Dinge und Verhältnisse als schlecht vorauszusetzen. Entspringt diese aus bloß subjektiven Motiven (angebornem melancholischen Temperament, unglücklichen Lebenserfahrungen, Argwohn und Mißtrauen gegen andre etc.), so handelt es sich um einen Stimmungs-P. (»Weltschmerz«), den einige moderne Dichter (Byron, Leopardi, Thackeray) in vollendeter Weise zum poetischen Ausdruck gebracht haben, der aber einer Begründung so wenig fähig ist wie einer Widerlegung. Nach psychologischen Gesetzen ist freilich der Mensch immer geneigt, den Ausflüssen seiner Subjektivität objektive Geltung beizulegen, und so ist die Grenze zwischen dem Stimmungs-P. und dem als wissenschaftlich begründbare Überzeugung sich gebenden theoretischen P. eine fließende. Dieser kann sich als metaphysischer P. auf die Weltordnung im ganzen oder als moralischer und geschichtsphilosophischer speziell auf das menschliche Leben beziehen. Die letztere Art des P. schließt die erstere nicht immer ein; so verbinden sich in der Weltanschauung des Christentums mit einer pessimistischen Auffassung der irdischen Dinge optimistische Erwartungen in bezug auf das Jenseits, bei Rousseau mit der Geringschätzung des Kulturlebens der optimistische Glaube an die Überwindung aller Übel durch Rückkehr zur Natur etc. Anderseits kann der metaphysische P., dessen älteste Anfänge sich im Buddhismus finden, und den in der Neuzeit besonders Schopenhauer und E. v. Hartmann entwickelt haben, mit einem relativen Optimismus verschmolzen werden. Nach der Lehre des letztern Philosophen ist die bestehende Welt immerhin die bestmögliche (obwohl prinzipiell ihr Nichtsein ihrem Dasein vorzuziehen wäre), und als Ideal menschlicher Lebensführung stellt er nicht, wie ersterer, einen tatlosen Quietismus hin, sondern die kräftige Mitarbeit am Weltprozeß, dessen letztes (aber nur auf dem Wege der vollen Hingabe des einzelnen an das Leben zu erreichendes) Ziel allerdings die Weltvernichtung ist. Die Gründe für den theoretischen P. hat man auf verschiedenen Gebieten gesucht. Der hedonistische Beweis besteht in der Behauptung, daß im Leben jedes Menschen die Summe der Unlustgefühle die der Lustgefühle übertrifft. Der moralistische Beweis beruft sich auf die ursprüngliche Schlechtigkeit der menschlichen Natur; Tugend und Sittlichkeit seien überall nur Schein, in Wahrheit werde der Mensch überall und immer durch gemeine (sinnliche, egoistische) Motive getrieben, und auch die moralischen Güter (Freundschaft, Familie, Vaterland etc.) seien bloß eingebildete. Der geschichtsphilosophische Beweis stützt sich auf die Tatsache, daß der Kulturfortschritt[642] auch die physischen und moralischen Übel vermehrt. Der metaphysische Beweis gründet sich auf die Lehre, daß die Welt nicht, wie der Theismus und der optimistische Pantheismus behaupten, das sinnvolle Erzeugnis einer außer oder in ihr lebenden absoluten Vernunft, sondern das sinnlose Produkt eines »blinden Willens« sei, und daß deswegen in ihr von einer Entwickelung, einem Fortschritt gegen ein positives Ziel hin keine Rede sein könne; ebenso sei aber auch das menschliche Wollen, als Teil des Weltwillens, ein ins Unbestimmte gerichtetes und deshalb niemals zu befriedigendes Streben. Hat der moderne philosophische P. einerseits mächtig auf den Zeitgeist eingewirkt, so ist er doch anderseits unverkennbar selbst durch die gegebene pessimistische Disposition des letztern mit bedingt. Denn wie im Einzelleben, so gibt es auch in der Geschichte der Völker Perioden, wo teils infolge äußerer Umstände (Mangel an großen begeisternden Ideen und Aufgaben, schwere Krisen im politischen und geistigen Leben, Korruption der öffentlichen und privaten Sitten etc.), teils infolge innerer Bedingungen (physische und moralische Erschlaffung, Übersättigung etc.), die pessimistische Stimmung überwiegt und gerade ideal angelegte Naturen (wegen des Mißverhältnisses zwischen Ideal und Wirklichkeit) am stärksten ergreift (in letzterer Hinsicht vgl. Shakespeares Hamlet, die »Tragödie des P.«). Die zweite Hälfte des 19. Jahrh. war eine solche, und darin liegt die kulturgeschichtliche Erklärung des philosophischen P. sowohl als verwandter Strömungen auf andern Gebieten, z. B. des Naturalismus in der Kunst. Vgl. Joh. Huber, Der P. (Münch. 1876); E. Pfleiderer, Der moderne P. (Berl. 1875); Agnes Taubert (Hartmann), Der P. und seine Gegner (das. 1873); v. Golther, Der moderne P. (Leipz. 1878); Plümacher, Der P. in Vergangenheit und Gegenwart (2. Ausg., Heidelb. 1888); E. v. Hartmann, Zur Geschichte und Begründung des P. (2. Aufl., Leipz. 1892); Paulsen, Schopenhauer, Hamlet, Mephistopheles. Drei Aufsätze zur Naturgeschichte des P. (Berl. 1900); O. Liebmann, Gedanken und Tatsachen, 2. Bd., 3. Heft: Trilogie des P. (Straßb. 1902); Kowalewski, Studien zur Psychologie des P. (Wiesbad. 1904).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 15. Leipzig 1908, S. 642-643.
Lizenz:
Faksimiles:
642 | 643
Kategorien: