Gemeinschaftsehe

[537] Gemeinschaftsehe (Hetärismus, Promiskuität), ein bei verschiedenen Naturvölkern unter den jüngern Leuten noch heute bestehendes geschlechtliches Verhältnis, demjenigen entsprechend, das Platon in seiner Republik empfahl, und das man jetzt auch wohl von Amerika aus unter dem Namen der freien Liebe als zu erreichendes Ideal hingestellt hat, daß nämlich Frauen und Männer einander gemeinschaftlich angehören. Bachofen, Mc. Lennan, Lubbock, Morgan und andre Forscher glaubten beweisen zu können, daß dieses Verhältnis ursprünglich überall bestanden und erst allmählich der Einzelehe Platz gemacht habe, wie sich denn Übergangszustände, sogen. Familienehen, wo die Geschwister ihre Frauen gemeinschaftlich haben, Vielweiberei und Vielmännerei mannigfach finden. Kautsky, Starcke u. a. haben ein Vorhandensein ursprünglicher G. bestritten, weil der Mensch, wie die ihm ähnlichen Tiere, von Natur monogam gewesen sein müsse. Sie halten der G. ähnliche Zustände, wo sie sich zeigen, für spätere Entartungen; allein, wenn auch zugegeben ist, daß die Monogamie immer bestanden hat, so sind doch die Überbleibsel einer unter den jungen Leuten vorherrschenden Promiskuität, die Schurtz nachweist, nicht aus der Welt zu schaffen, auch verbietet die leichte Auflösbarkeit und Lockerheit der monogamischen Verbindungen bei Naturvölkern, sie dem Ehebegriff der zivilisierten Völker allzusehr anzunähern. Der Umstand, daß ursprünglich fast überall die Mutter an der Spitze der Familie stand, ist der Annahme einer in primitiven Gesellschaftszuständen vorhandenen Neigung zur Promiskuität durchaus günstig. Da nämlich die unter solchen Verhältnissen gebornen Kinder nur ihre Mutter, aber nicht ihren Vater kennen, so müssen sie Namen und Besitz notwendig nach der erstern erben, und es ergibt sich daraus das bei Naturvölkern weitverbreitete Mutterrecht (s.d.), weil dann die Mutter das alleinige Oberhaupt der Familie darstellt. Die eigentümlichen daraus entspringenden Verwandtschaftsverhältnisse, bei denen alle Kinder als Geschwister, alle jüngern Männer als Väter, alle ältern als Großväter betrachtet und angeredet werden, hat namentlich Morgan untersucht. Auch die weitverbreiteten Sitten des Frauenraubes (s.d.) und der Exogamie (s.d.) hat man aus diesen ursprünglichen Zuständen herzuleiten gesucht. Vgl. Me. Lennan, Primitive marriage (Edinb. 1865); Morgan, Systems of consanguinity (Washington 1869); Lubbock, Die Entstehung der Zivilisation (deutsch, Jena 1875); Bachofen, Antiquarische Briefe (Straßb. 1881); Schurtz, Altersklassen und Männerbünde (Berl. 1902); Hellwald, Die menschliche Familie (Straßb. 1888), und die im Artikel »Ehe« angeführten Werke von Giraud-Teulon, Post, Starcke, Achelis, Westermarck. Vgl. Weibergemeinschaft und Geschlechtsgenossenschaften.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 537.
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