Mutterrecht

[334] Mutterrecht (Matriarchat), das bei gewissen dem Naturzustand näher stehenden Völkern bestehende Rechtsverhältnis, nach dem die Kinder Namen, Besitz, Vorrechte, Stammeszugehörigkeit u.a. nur von mütterlicher Seite her erben, auch wenn der Vater bekannt ist. Das M. ist eine notwendige Einrichtung bei allen jenen Völkern, bei denen das Vaterrecht (Patriarchat) und die Ehe als rechtliche Institutionen noch nicht eingeführt und anerkannt sind, und die entweder in sogen. Gemeinschaftsehe (s. d.) oder in Polyandrie leben. Es findet sich daher noch jetzt bei sehr vielen Naturvölkern beider Weltteile und greift daselbst in viele wichtige Lebensverhältnisse ein, sofern die Kinder bei ausbrechendem Zwist zum Stamm der Mutter stehen, dagegen vielfach nicht in den Stamm der Mutter hineinheiraten dürfen (vgl. Exogamie). Die Schriftsteller der Alten wußten auch noch von vielen europäischen Stämmen zu erzählen, bei denen das M. noch in Geltung war. Selbst in Rom blieb lange Zeit hindurch die Ehe nur ein Vorrecht der Patrizier, während die Plebs im ehelosen Zustande der Vorzeit weiterlebte. Daß bei den indogermanischen Völkern übrigens das Vaterrecht schon vor ihrer Trennung eingeführt worden sein muß, sucht Delbrück in seiner Arbeit über die indogermanischen Verwandtschaftsnamen (Leipz. 1889) zu beweisen. Auch bei Völkern, die in monogamischer Ehe lebten, erhielt sich das M. oft noch eine Zeitlang als Überlebsel, so daß Häuptlinge in vielen Ländern ihre Würde nicht auf den eignen Sohn, sondern nur auf den Sohn ihrer Schwester vererben können (Neffenrecht), weil man nur in der weiblichen Linie sicher zu sein glaubt, fürstliches Geblüt anzutreffen. Bei dem Übergang zum Vaterrecht führten sich gewisse Gebräuche ein, welche die Erwerbung der Kinder, die sonst der Mutter gehörten, durch den Vater symbolisieren mußten (vgl. Männerkindbett). Das M. hat auch sonst, namentlich in der Mythologie und Geschichte, mannigfache Spuren zurückgelassen, z. B. in den Amazonensagen, ohne daß man daraus schließen dürfte, wie es irrtümlicherweise vielfach geschehen ist, die Frauen hätten ehemals allgemein eine wirkliche Oberherrschaft ausgeübt. Gegen die Theorie der Herausbildung des Mutterrechts aus der endogamen Geschlechtsgenossenschaft oder der unorganisierten Horde ist neuerdings H. Schurtz mit Erfolg zu Felde gezogen; nach ihm ist die Vorstufe des Mutterrechts eben nicht diese unorganisierte, in sich der freien Liebe frönenden Horde, sondern die auf der Sympathie der Gleichalterigen beruhende Vergesellschaftung der männlichen Jugend und die aus dieser Sympathie hervorgehende Einteilung der Horde in Altersklassen. In dieser Sympathie der Gleichalterigen sieht Schurtz das ganz allgemeine Motiv zur Bildung größerer gesellsch. istlicher Verbände. Innerhalb dieser entstehen dann Altersklassen, von denen bei den jüngern die bemerkenswerterweise stets exogame freie Liebe oder der Hetärismus oder die Gemeinschaftsehe (s. d.) vorherrscht, während sich in den ältern Klassen die Ehe entwickelt. Erst aus dieser Organisation, und nicht aus der endogamen Geschlechtsgenossenschaft, geht dann unter den wachsenden Ansprüchen eines sich allmählich entwickelnden Familienlebens die totemistischmatriarchalische Organisation hervor, die ihrerseits nach und nach dann in die patriarchalische übergeht. Vgl. Bachofen, Das M. (Stuttg. 1861; 2. Aufl., Basel 1897) und Antiquarische Briefe (Straßb. 1881 bis 1886, 2 Bde.); Morgan, Systems of consanguinity and affinity of the human family (Washingt. 1871); Giraud-Teulon, Les origines du mariage et de la famille (Par. 1884); Dargun, M. und Raubehe und ihre Reste im germanischen Recht (Bresl. 1883) und Studien zum ältesten Familienrecht (Leipz. 1892, unvollendet); Wilken, Het matriarchaat bij de oude Arabieren (Amsterd. 1884; deutsch, Leipz. 1884); Friedrichs, Über den Ursprung des Matriarchats (in der »Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft«, Bd. 8, Stuttg. 1889); Mac Lennan, Exogamy and endogamy (in »The Fortnightly Review«, neue Folge, Bd. 21, Lond. 1877); Wale, The development of marriage and kinship (das. 1889); Schurtz, Urgeschichte der Kultur (Leipz. 1900) und Altersklassen und Männerbünde (Berl. 1902); Boden, M. und Ehe im altnordischen Recht (Berl. 1904). Vgl. auch die Literatur bei den Artikeln »Ehe, Gemeinschaftsehe, Familie«.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 334.
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