Gemeinschaftsbewegung

[536] Gemeinschaftsbewegung nennt man eine religiöse Bewegung innerhalb der deutsch-evangelischen Christenheit, die ihre Entstehung dem Empfinden pietistisch, bez. methodistisch gerichteter Evangelischer verdankt, daß innerhalb des Staats- und Volkskirchentums, das auch ungläubige und unwiedergeborne Glieder und Amtsträger dulden müsse, das echte christliche Leben nicht zu seinem Rechte komme. Bald im Gegensatz zu den Landeskirchen, bald um sie in ihrem Wirken zu ergänzen, traten Gemeinschaften von Laien zusammen, die auf Heiligung des Lebens, auf Betätigung des allgemeinen Priestertums in gemeinsamer biblischer Besprechung und auf Pflege »brüderlicher« Gemeinschaft ausgingen. Die Wurzeln solcher Erbauungsgemeinschaften liegen im Pietismus des 17. und 18. Jahrh. Neues Leben empfingen sie teils durch die sogen. Erweckung (s.d.) im Anfang des 19. Jahrh., teils durch methodistische Einflüsse von England und Amerika her. Namentlich gab das Auftreten des Amerikaners Pearsall Smith in Deutschland 1875 den Anstoß zu einer kräftigen Evangelisationsbewegung, die besonders an dem Deutsch-Amerikaner Pastor v. Schlümbach und an dem Bonner Professor Theodor Christlieb eifrige Förderer fand. Bekanntere Evangelisten sind Elias Schrenk, Samuel Keller, Lohmann. Von den Männern des 1886 gegründeten Deutschen Evangelisationsvereins wurde 1888 die Gnadauer Pfingstkonferenz berufen, die aller zwei Jahre tagt (bis 1893 unter Jasper Frh. v. Oertzen, seitdem unter Graf Ed. v. Pückler). Erst durch diese Vereinigung wurde die G. in weitere Kreise getragen. Sie schuf 1890 das »Deutsche Komitee für evangelische Gemeinschaftspflege« (später mit dem Zusatz: »und Evangelisation«) und die Monatsschrift »Philadelphia« (hrsg. von Rektor Chr. Dietrich in Stuttgart). Die Frucht einer überaus eifrigen Agitation (1902 waren 2 Reiseprediger, 9 Kolporteure, 4 Gemeinschaftspfleger,[536] 1 Buchhändler tätig) war die Entstehung von Hunderten von »Gemeinschaften« durch ganz Deutschland hin, die in besondern Konferenzen (Kassel, Hamburg, Nakel in Posen u. a.) sich zusammenfanden. Die Leitung der Gemeinschaften eines Landes oder einer Provinz liegt zurzeit in der Hand eines aus 6–12 »Brüdern« bestehenden »Brüderrats«. Die Brüderräte von zwölf Ländern oder Provinzen haben sich bis 1903 in einem seit 1897 bestehenden Deutschen Verband für evangelische Gemeinschaftspflegen u. Evangelisation zusammengeschlossen. Das Schwergewicht liegt in den Einzelgemeinschaften, die sehr verschieden oder noch gar nicht organisiert sind. Außerdem schließen sich Berufsgenossen zu selbständigen Gemeinschaften zusammen: so Lehrer (die stärkste die Westdeutsche Lehrergemeinschaft mit ca. 500 Mitgliedern), Eisenbahner, Kaufleute, Bäcker, auch Pastore, Offiziere (Zeitschrift »Schwert und Schild« von Generalleutnant v. Viebahn) und Studenten (christliche Studentenvereinigungen). Die Gemeinschaften pflegen das religiöse Leben vor allem durch gemeinsame Bibellektüre und-Erklärung und durch freies »Herzensgebet«. Theologisch halten sie vor allem an der wörtlichen Schriftinspiration fest und lehnen die moderne Theologie als ungläubig ab. 1902 hat man in Eisenach eine Konferenz mit positiv gerichteten Theologen abgehalten. Das Verhältnis zwischen G. und Landeskirchentum hat sich allmählich freundlicher gestaltet. Vgl. Fleisch, Die moderne G. in Deutschland (Leipz. 1903); Dietrich und Brockes, Die Privat-Erbauungsgemeinschaften innerhalb der evangelischen Kirchen Deutschlands (Stuttg. 1903); Tiesmeyer, Die Erweckungsbewegung in Deutschland während des 19. Jahrhunderts (1. Bd., Kassel 1901–03).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 536-537.
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