Heimweh

[86] Heimweh (Nostalgia, Nostrasia), eine durch unbefriedigte Sehnsucht nach der Heimat begründete Art seelischer Verstimmung, die in den verschiedensten Graden beobachtet wird, in schweren Fällen zu tieferer Schädigung der körperlichen Gesundheit führen, ja als vollkommen entwickelte Gemütskrankheit (unter dem Bilde der Melancholie) sich darstellen kann. Die Disposition zu dieser Krankheit scheint bei dem einzelnen Individuum wie bei ganzen Volksgruppen an eine niedere Stufe der Zivilisation und an eine einfache, einförmige, mit der nächsten Umgebung in der ausschließlichsten Verbindung stehende Lebensweise gebunden zu sein. Bei halb erwachsenen, in der Pubertätsentwickelung begriffenen Individuen, die das elterliche Haus zu verlassen genötigt werden, entsteht das H. wohl am häufigsten, in reiferm und höherm Alter seltener. In Frankreich, so erzählt man, war es bis über die Mitte des 18. Jahrh. hinaus bei Todesstrafe verboten, den Kuhreigen zu singen oder zu pfeifen, weil die schweizerischen Soldaten durch das Hören desselben haufenweise in H. verfielen, desertierten oder[86] starben. Gründlich beseitigt wird das H. in seinen schweren Formen in der Regel nur durch die Rückkehr in die Heimat. Zur Verhütung des Heimwehs in Armeen, Lagern, Garnisonen, Spitälern und auf Schiffen dient alles, was Heiterkeit, Mut und Hoffnung zu erwecken und zu erhalten imstande ist: humane Behandlung, Vermeidung von Müßiggang, von übermäßiger Anstrengung und Neckereien, gymnastische Übungen, nützlicher Unterricht, Spiele, Musik etc. – Das Wort H., ursprünglich nur der Schweizer Mundart angehörig, drang erst zu Anfang des 19. Jahrh. in die hochdeutsche Schriftsprache ein. Schiller und auch Goethe gebrauchten es noch nicht. Vgl. Jakob Grimms Göttinger Antrittsrede »De desiderio patriae« vom 13. Nov. 1830. Die erste Abhandlung über das H. stammt aus dem Jahre 1678 von Harder und Hofer (Basel).

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Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 86-87.
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