Ionentheorie

[905] Ionentheorie. Früher nahm man an, daß bei der Elektrolyse die Moleküle durch die elektrische Kraft in ihre entgegengesetzt geladenen Teile (Atome, Molekülreste, von Faraday die Ionen genannt) zerrissen würden. Damit war aber nicht in Übereinstimmung zu bringen, daß schon die kleinste elektrische Kraft Elektrolyse, wenigstens galvanische Polarisation hervorzurufen vermag. Clausius machte deshalb die Annahme, daß in Elektrolyten stets, auch ohne Einwirkung der elektrischen Kraft, lediglich durch die gegenseitigen Stöße der Moleküle ein Teil der letztern in Ionen zerspalten sei. Dieser Zustand wird als elektrolytische Dissoziation bezeichnet. Die Elektrizitätsleitung in dem Elektrolyten besteht darin, daß die positiv geladenen Ionen zur Kathode, die negativ geladenen zur Anode strömen. Diese Bewegung dei[905] Ionen in entgegengesetzter Richtung, die Wanderung der Ionen, durch welche die Beschaffenheit des Elektrolyten in der Nähe der Elektroden geändert wird, wurde namentlich von Hittorf und F. Kohlrausch untersucht und aus den Konzentrationsänderungen bei Verwendung einer Anode aus gleichem Metall wie das sich ausscheidende die Wanderungsgeschwindigkeit der einzelnen Ionen berechnet. Durch die neuern Methoden der Molekulargewichtsbestimmung mittels des osmotischen Druckes, Gefrierpunkterniedrigung, Siedepunkterhöhung etc. ist es möglich, den Dissoziationsgrad zu bestimmen, wie namentlich Arrhenius und Ostwald gezeigt haben. Aus der Wanderungsgeschwindigkeit und dem Dissoziationsgrad ergibt sich ferner die Leitfähigkeit, die deshalb, da der Dissoziationsgrad auch für die sogen. chemische Affinität maßgebend ist, auch zu letzterer in Beziehung stehen muß. Ferner erklären sich dadurch verschiedene Eigentümlichkeiten der Wärmetönung bei chemischen Prozessen, insofern z. B. die Neutralisationswärme von Basen und Säuren in sehr verdünnten Lösungen, in denen die Dissoziation eine vollständige ist, nicht von der Natur der Substanzen abhängen kann, weil lediglich eine Verbindung der Wasserbestandteile stattfindet, während die Stoffe selbst dissoziiert bleiben. Von gewöhnlichen freien Atomen oder Molekülresten unterscheiden sich die Ionen durch ihre elektrische Ladung. Diese ist durch die Wertigkeit bestimmt. Ein einwertiges Ion enthält eine Ladung von 0,156 Trilliontel Coulomb, ein zweiwertiges doppelt-, ein n-wertiges n mal soviel. Dieses Elektrizitätsquantum heißt das Elementarquantum, die ganze Ladung des Atoms seine Valenzladung. Insofern das Elementarquantum, auch kurzweg Quantum genannt, anscheinend die kleinste Menge Elektrizität ist, die isoliert auftreten kann, hat man es als Elektrizitätsatom betrachtet und als Elektron bezeichnet.

Giese glaubte auch den Durchgang der Elektrizität durch Gase, insbes. die konvektive Entladung, auf Ionen (Gasionen) zurückführen zu können. Diese Auffassung hat durch die Arbeiten einer Reihe von Forschern eine gewisse Bestätigung erfahren, insbes. rechtfertigen die Untersuchungen über Kathodenstrahlen die Annahme, daß wir es da mit der Bewegung negativer Elektronen zu tun haben. Daß die Masse der Träger der negativen Elektrizität in verdünnten Gasen sehr viel kleiner ist als selbst die Masse eines Wasserstoffatoms, folgerte der englische Physiker J. J. Thomson aus der Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Masse und elektrischen Ladung eines solchen Ions, das sehr viel kleiner ist als der entsprechende Wert bei der Elektrolyse der Flüssigkeiten, während die Ladung gleich der durch ein Wasserstoffion bei der gewöhnlichen Elektrolyse übergeführten ist. Dagegen ist bei den positiv elektrischen Gasionen (Kanalstrahlen) das Verhältnis zwischen Masse und elektrischer Ladung von derselben Größenordnung wie bei der gewöhnlichen Elektrolyse. Nach Ansicht von J. J. Thomson wird die Ionisierung eines Gases dadurch bewirkt, daß sich kleine Teilchen (Korpuskeln, Elektronen) von dem eigentlichen chemischen Atom loslösen, welche die negative Ladung fortführen, während der übrigbleibende Teil von nahezu der gleichen Masse wie das ursprüngliche Atom die positive Ladung befördert. Auch in den Metallen hat man das Vorhandensein solcher Ionen angenommen, von denen die positiven ihre Lage beibehalten, während die negativen zwischen ihnen hin und her zu schwingen vermögen.

Neuern Untersuchungen zufolge ist die Masse der Elektronen nur eine scheinbare, insofern die tatsächlich beobachtete Trägheit auf den Energieverbrauch zur Bildung des Magnetfeldes bei Bewegung der Elektronen zurückzuführen ist. Die als Kathodenstrahlen fortgeschleuderten freien Elektronen bewegen sich mit einer Geschwindigkeit, die von der Größenordnung der Lichtgeschwindigkeit sein kann und von dem Potentialgefälle abhängt. Die Becquerelstrahlen sind anscheinend geradezu mit Lichtgeschwindigkeit fortgeschleuderte Elektronen. Bei den elektrischen Lichterscheinungen tritt möglicherweise die Zerspaltung der Moleküle (Ionisation) durch den Stoß der mit jener ungeheuer großen Geschwindigkeit auftreffenden Elektronen ein (Ionenstoß). Von besonderm Nutzen erwies sich die Elektronentheorie zur Erklärung der Dispersion (s. d.) des Lichtes sowie der Einwirkung magnetischer Kräfte auf die Erzeugung des Lichtes (Zeemans Phänomen, s. d.). Vgl. die Artikel »Elektrolyse«, »Ionisierung der Luft« und »Elektrische Entladung«. Vgl. Ostwald, Elektrochemie (Leipz. 1896); Arrhenius, Lehrbuch der Elektrochemie (deutsch, das. 1901), und die Literaturangaben bei Artikel. Elektronen«.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 905-906.
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