Schädellehre

[668] Schädellehre (Kraniologie), s. Schädel. Unter S. versteht man auch die von Gall (s. d. 1) herrührende Lehre von der Erkenntnis der menschlichen Geistesanlagen aus den Ausbuchtungen der Schädeloberfläche (Kranioskopie, Organologie, Phrenologie). Nach dieser von Spurzheim, Carus u.a. weiter ausgebildeten Lehre ist das Gehirn, das Organ für alle geistigen Verrichtungen, nicht bei jeder einzelnen Geistestätigkeit mit seiner ganzen Masse aktiv, sondern jede besondere Geistesverrichtung kommt vermittelst eines besondern Teiles (Organes) zustande, so daß das Gehirn als ein Inbegriff von Organen erscheint, die teils den verschiedenen Äußerungen der Triebe und Begierden, teils den Tätigkeiten des Erkenntnisvermögens dienen. Die geistigen Fähigkeiten vergrößern oder vermindern sich mit den entsprechenden Hirnteilen, so daß sich die Energie eines bestimmten Seelenvermögens aus der räumlichen Entwickelung des betreffenden Hirnteils erkennen läßt. Dies kann aber am Lebenden geschehen, da die Organe des Gehirns auch die äußere Form der Schädelknochen bestimmen und Hervorragungen, Buckel und Vertiefungen erzeugen. Die Phrenologen unterschieden[668] einige dreißig geistige Anlagen oder Grundkräfte des Geistes und glaubten für dieselben bestimmte Teile des Gehirns nachweisen zu können. Die neuere Physiologie erkennt allerdings eine Lokalisation der verschiedenen Hirnfunktionen an und unterscheidet Abschnitte der Hirnrinde, die bestimmten Bewegungen, und andre, die den einzelnen Sinnen dienen, glaubt aber, daß die verwickelten Leistungen, die die Phrenologen annahmen, nicht auf lokal begrenzte Hirn organe angewiesen sind. Auch ist es noch sehr fraglich, ob der vermehrten Beanspruchung bestimmter Hirnpartien eine stärkere Ausbildung derselben entspricht, und ob eine solche, wenn vorhanden, äußerlich am knöchernen Schädel erkennbar ist. Vgl. Gall und Spurzheim, Anatomie et physiologie du système nerveux (Par. 1810–20, 4 Bde.; 2. Aufl. 1822–1825, 6 Bde.); Combe. System of phrenology (5. Aufl., Lond. 1843; deutsch, Braunschw. 1833); Carus, Grundzüge einer neuen und wissenschaftlich begründeten Kranioskopie (Stuttg. 1841) und Atlas der Kranioskopie (2. Aufl., Leipz. 1864); Noël, Grundzüge der Phrenologie (2. Aufl., das. 1856) und Die materielle Grundlage des Seelenlebens (das. 1874); Wittich, Physiognomik und Phrenologie (Berl. 1870); Scheve, Katechismus der Phrenologie (8. Aufl., Leipz. 1896). Eine Kritik der Gallschen S. gab Hyrtl in seiner »Topographischen Anatomie«.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 17. Leipzig 1909, S. 668-669.
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