Totengericht

[636] Totengericht, eine von Diodor den alten Ägyptern zugeschriebene Sitte, Gericht zu halten über einen Verstorbenen, ehe er begraben wurde. 42 Männer prüften sein Leben und seine Taten; vor ihnen konnte jedermann den Verstorbenen anklagen. Ward er für gerecht befunden, so erfolgte die feierliche Bestattung; wurde er für schuldig erklärt, so durfte er nicht begraben werden, sondern wurde im Hause seiner Verwandten aufgestellt. Diese Schilderung Diodors beruht auf einem Mißverständnis. Ein T. fand nicht auf Erden, sondern, nach den ägyptischen Anschauungen vom Leben nach dem Tode, wie sie in einem Kapitel des Totenbuches (s. Hieroglyphen, S. 317) niedergelegt sind, in der Unterwelt statt. Hier thront in der Gerichtshalle Osiris, der Herr der Westlichen; vor ihm sitzen die 42 Beisitzer des Gerichts, eine Straußfeder, das Symbol des Rechtes, auf dem Haupt und ein Schwert in der Hand. Vor diese tritt der Verstorbene hin und spricht seine Beichte. Auf einer großen Wage werden die Taten des Verstorbenen, deren Symbol sein Herz ist, abgewogen, während ein Bildnis der Göttin der Wahrheit (Meet) auf der andern Schale als Gewicht dient. Die Göttin des Rechtes selbst führt den Verstorbenen herzu, damit er zeige, ob er mit Wahrheit oder mit Lüge behaftet kommt; die Götter Anubis und Horus stehen prüfend an der Wage, während Thout vor ihnen das Ergebnis auf seiner Schreibtafel verzeichnet. Hat der Verstorbene vor Osiris bestanden, so stehen ihm die Pforten des Jenseits offen, andernfalls wird er ihren mannigfachen Schrecken überliefert. Ein ähnlicher Gedankengang findet sich in der indischen, persischen, griechischen, römischen Mythologie und in den Vorstellungen vom Jüngsten Gericht, von einem »Buche der Gerechtigkeit«, in dem alle Taten der Menschen verzeichnet stehen, und in den bildlichen Darstellungen des Erzengels Michael mit der Seelenwage auf altdeutschen Gemälden.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 636.
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