Versöhnung

[108] Versöhnung, die Wiederherstellung eines freundlichen Verhältnisses zwischen Feinden, in der Dogmatik die Wiederherstellung des durch die Sünde aufgelösten religiösen Verhältnisses. Dabei wird unterschieden zwischen der V. der Menschen, die Gott feindlich gestimmt waren, mit ihm (reconciliatio) und der V des durch die Sünde der Menschen beleidigten Gottes selbst (expiatio). Erst in letzterer Vorstellung gipfelt die rechtgläubige Lehre, wonach Gott, um den Menschen unter der Bedingung des Glaubens und der Buße zu verzeihen, die Sünde an dem Gottmenschen Christus bestrafte, der kraft seiner stellvertretenden Genugtuung (satisfactio vicaria) der göttlichen Gerechtigkeit an unsrer Statt Genüge leistete, so daß unsre Sünde ihm, sein Verdienst uns zugerechnet wird (imputatio). Schon bei Paulus bildet die Lehre von der V. einen der Brennpunkte seines Systems (s. Christologie, S. 117). Aber ihre formelle Vollendung erfuhr sie erst durch Anselm von Canterbury, der die Majestät Gottes als durch die Sünde beleidigt darstellte und aus der Notwendigkeit eines Gott für seine angegriffene Ehre zu erstattenden Äquivalents den Begriff einer vom Gottmenschen zu leistenden Genugtuung herleitete. Denn die Kräfte aller gewöhnlichen, zumal in Sünden gefallenen, Menschen reichen hierfür nicht aus, und doch mußte ein Mensch Genugtuung leisten, während wegen der Unendlichkeit der Schuld nur der unendliche Gott ihre Sühnung beschaffen kann. Nur die freiwillige Dahingabe des sündlosen Lebens des Gottmenschen erschien dem Gewicht aller Sünden gegenüber als ein ausreichendes, ja mehr als ausreichendes Gegengewicht. Diese Lehre hielten auch die Reformatoren fest und erklärten sich namentlich entschieden gegen die Sühnung der göttlichen Gerechtigkeit durch sogen. gute Werke. Die lutherischen Theologen des 17. Jahrh. betonten fast nur noch die juridische Seite der V. und fanden die von Christus geleistete Genugtuung in dessen tätigem und leidendem Gehorsam (Gesetzeserfüllung und Erduldung der Sündenstrafe), während die Sozinianer und Rationalisten die ethische Seite in den Vordergrund stellten und die neuere Philosophie einen spekulativen Gehalt in die harte Schale auch dieses Dogmas zu legen wußte. Die moderne Orthodoxie lehnt zwar die Vorstellung einer Umstimmung Gottes ab, hält aber am Sühnegedanken fest, die freier gerichtete Theologie hingegen erblickt die versöhnende Leistung Christi in seiner Kraft, die Menschen zum Glauben an Gottes entgegenkommende Gnade zu führen. Vgl. F. Chr. Baur, Die christliche Lehre von der V. (Tübing. 1838); A. Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und V. (4 Aufl., Bonn 1895–1903, 3 Bde.); Kähler, Zur Lehre von der V. (Leipz. 1898); A. Sabatier, La doctrine de l'expiation (Par. 1903); Bensow, Die Lehre von der V. (Gütersloh 1904).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 108.
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