Sechste Familie: Bären (Ursidae)

[155] Die letzte Familie unserer Ordnung führt uns bekannte und befreundete Gestalten aus der Kinderzeit vor. Die Bären (Ursidae) sind so ausgezeichnete Thiere, daß wohl Jeder sie augenblicklich erkennt; seltener zu uns kommende Arten weichen jedoch in mancher Hinsicht von dem allgemeinen Gepräge ab, und bei einzelnen Sippen muß man schon einiges Verständnis der thierischen Verwandtschaften besitzen, wenn man zurechtkommen will.

Der Leib der Bären ist gedrungen oder selbst plump, der Kopf länglichrund, mäßig gestreckt, mit zugespitzter, aber gewöhnlich gerade abgeschnittener Schnauze, der Hals verhältnismäßig kurz und dick; die Ohren sind kurz und die Augen beziehentlich klein; die Beine sind mäßig lang, die Vorder- und Hinterfüße fünfzehig und mit großen, gebogenen, unbeweglichen, d.h. nicht einziehbaren, deshalb an der Spitze oft sehr stark abgenutzten Krallen bewaffnet, die Fußsohlen, welche beim Gehen den Boden ihrer vollen Länge nach berühren, fast ganz nackt. Das Gebiß besteht aus 36 bis 40 Zähnen, und zwar oben und unten sechs Schneidezähnen, den Eckzähnen, oben und unten zwei bis vier Lückzähnen oder zwei Lückzähnen oben, drei unten, sowie endlich zwei bis drei Backenzähnen. Die Schneidezähne sind verhältnismäßig groß, haben oft gelappte Kronen und stehen im Einklange mit den starken, meist mit Kanten oder Leisten versehenen Eckzähnen; die Lückzähne dagegen sind einfach kegelförmig oder nur mit unbedeutenden Nebenhöckern versehen; der Fleisch- oder Reißzahn ist sehr schwach, fehlt sogar einigen Sippen vollständig und ist bei anderen nur ein starker Lückzahn mit innerem Höcker; die Kauzähne sind stumpf und die des Unterkiefers stets länger als breit. Am Schädel ist der Hirntheil gestreckt und durch starke Kämme ausgezeichnet; die Halbwirbel sind kurz und stark, ebenso auch die 19 bis 21 Rückenwirbel, von denen 14 oder 15 Rippenpaare tragen. Das Kreuzbein besteht aus 3 bis 5 und der Schwanz aus 7 bis 34 Wirbeln. Die Zunge ist glatt, der Magen ein schlichter Schlauch, der Dünn- und Dickdarm wenig geschieden; der Blinddarm fehlt gänzlich.

Soweit die Vorwesenkunde uns Aufschluß gewähren kann, läßt sich feststellen, daß die Bären schon in der Vorzeit vertreten waren, wie es scheint, sich aber allgemach vermehrt haben. Gegenwärtig verbreiten sie sich über ganz Europa, Asien und Amerika, ebenso auch über einen Theil von Nordwestafrika. Sie bewohnen ebensogut die wärmsten wie die kältesten Länder, die Hochgebirge wie die von dem eisigen Meere eingeschlossenen Küßten. Fast sämmtliche Arten hausen in dichten, ausgedehnten Wäldern oder in Felsengegenden, zumeist in der Einsamkeit. Die einen lieben [155] mehr wasserreiche oder feuchte Gegenden, Flüsse, Bäche, Seen und Sümpfe und das Meer, während die anderen trockenen Landstrichen den Vorzug geben. Eine einzige Art ist an die Küsten des Meeres gebunden und geht niemals tiefer in das Land hinein, unternimmt dagegen, auf Eisschollen fahrend, weitere Reisen als alle übrigen, durchschifft das nördliche Eismeer und wandert von einem Erdtheile zum anderen.


Geripp des Bären. (Aus dem Berliner anatomischen Museum.)
Geripp des Bären. (Aus dem Berliner anatomischen Museum.)

Alle übrigen Arten schweifen innerhalb eines weniger ausgedehnten Kreises umher. Die meisten Bären leben einzeln, d.h. höchstens zur Paarungszeit mit einem Weibchen zusammen; einige sind gesellig und vereinigen sich zu Gesellschaften. Diese graben sich Höhlen in der Erde oder in dem Sande, um dort ihr Lager aufzuschlagen, jene suchen in hohlen Bäumen oder in Felsklüften Schutz. Die meisten Arten sind nächtliche oder halbnächtliche Thiere, ziehen nach Untergang der Sonne auf Raub aus und bringen den ganzen Tag über schlafend in ihren Verstecken zu.

Mehr als die übrigen Raubthiere scheinen die Bären, Allesfresser im vollsten Sinne des Wortes, befähigt zu sein, lange Zeit allein aus dem Pflanzenreiche sich zu ernähren. Nicht nur eßbare Früchte und Beeren werden von ihnen verzehrt, sondern auch Körner, Getreide im reifen und halbreifen Zustande, Wurzeln, saftige Gräser, Baumknospen, Blütenkätzchen usw. Gefangene hat man längere Zeit bloß mit Hafer gefüttert, ohne eine Abnahme ihres Wohlbefindens zu bemerken. In der Jugend dürften sie ihre Nahrung ausschließlich aus dem Pflanzenreiche wählen, und auch später ziehen sie Pflanzennahrung dem Fleische vor. Sie sind keine Kostverächter; denn sie fressen fast alles, was genießbar ist: außer den angeführten Pflanzen auch Thiere, und zwar Krebse und Muscheln, Würmer, Kerbthiere und deren Larven, Fische, Vögel und deren Eier, Säugethiere und Aas. In der Nähe menschlicher Wohnsitze fügen sie dem Haushalte Schaden zu, und die stärkeren Arten werden zuweilen zu höchst gefährlichen Raubthieren, welche, wenn der Hunger sie quält, größere Thiere anfallen und namentlich unter unserem Viehstande bedeutende Verwüstungen anrichten können. Einzelne sind dabei so dreist, daß sie bis in die Dörfer hineinkommen, um Hausgeflügel zu würgen und Eier zu verzehren oder Ställe aufzubrechen, und dort sich mit leichter Mühe Beute zu holen. Dem Menschen werden die größten bloß dann gefährlich, wenn er sich mit ihnen in Kampf einläßt und ihren Zorn reizt.

[156] Man irrt, wenn man die Bewegungen der Bären für plump und langsam hält. Die großen Arten sind zwar nicht besonders schnell und auch nicht geschickt, aber im hohen Grade ausdauernd und demnach fähig, den Mangel an Beweglichkeit zu ersetzen; auf die kleinen Arten aber leidet jene Meinung gar keine Anwendung, denn diese bewegen sich außerordentlich behend und rasch. Der Gang auf der Erde ist fast immer langsam. Die Bären treten mit ganzer Sohle auf und setzen bedächtig ein Bein vor das andere; gerathen sie aber in Aufregung, so können sie tüchtig laufen, indem sie einen absonderlichen, jedoch fördernden Galopp einschlagen. Die plumperen Arten vermögen außerdem auf den Hinterbeinen sich aufzurichten und, schwankenden Ganges zwar, aber doch nicht ungeschickt, in dieser Stellung eine gewisse Strecke zu durchmessen. Das Klettern verstehen fast alle ziemlich gut, wenn sie ihrer Schwere wegen es auch nur in untergeordneter Weise ausüben können. Einige meiden das Wasser, während die übrigen vortrefflich schwimmen und einige tief und anhaltend tauchen können. Den Eisbären trifft man oft viele Meilen weit vom Lande entfernt, mitten im Meere schwimmend, und hat dann Gelegenheit, seine Fertigkeit und erstaunliche Ausdauer zu beobachten. Eine große Kraft erleichtert den Bären die Bewegungen, läßt sie Hindernisse überwinden, welche anderen Thieren im höchsten Grade störend sein würden, und kommt ihnen auch bei ihren Räubereien sehr wohl zu statten: sie sind im Stande, eine geraubte Kuh oder ein Pferd mit Leichtigkeit fortzuschleppen oder aber einem anderen Thiere durch eine kräftige Umarmung alle Rippen im Leibe zu zerbrechen. Unter ihren Sinnen steht der Geruch oben an; das Gehör ist gut, das Gesicht mittelmäßig, der Geschmack nicht besonders und das Gefühl ziemlich unentwickelt, obwohl einige in ihrer verlängerten Schnauze ein förmliches Tastwerkzeug besitzen. Einige Arten sind verständig und klug; doch fehlt ihnen die Gabe, listig etwas zu berechnen und das einmal Beschlossene schlau auszuführen. Sie lassen in gewissem Grade sich abrichten, erreichen jedoch nicht entfernt die geistige Ausbildung, welche wir bei unserem klügsten Hausthiere, dem Hunde, zu bewundern gelernt haben. Einzelne werden leicht zahm, zeigen jedoch keine besondere Anhänglichkeit an den Herrn und Pfleger. Dazu kommt, daß das Vieh im Alter immermehr sich herauskehrt, d.h. daß sie tückisch und reizbar, zornig und boshaft und dann äußerst gefährlich werden. Die unbedeutenden Kunststücke, zu denen sich die eine oder die andere Art abrichten läßt, kommen kaum in Betracht, und bei vielen ist von einer Abrichtung überhaupt keine Rede. Gemüthsstimmungen geben die Bären durch verschiedene Betonung ihrer an und für sich merkwürdigen, aus dumpfem Brummen, Schnauben und Murmeln oder grunzenden und pfeifenden, zuweilen auch bellenden Tönen bestehenden Stimme zu erkennen.

Alle nördlich wohnenden größeren Bärenarten schweifen bloß während des Sommers umher und graben sich vor dem Eintritte des Winters eine Höhle in den Boden oder benutzen günstig gestaltete Felsenspalten und andere natürliche Höhlungen, um dort den Winter zuzubringen. Immer bereiten sie sich im Hintergrunde ihrer Wohnung aus Zweigen und Blättern, Moos, Laub und Gras ein weiches Lager und verschlafen hier in Absätzen die kälteste Zeit des Jahres. In einen ununterbrochenen Winterschlaf fallen die Bären nicht, sie schlafen vielmehr in großen Zeiträumen, ohne jedoch eigentlich auszugehen. Dabei erscheint es auffallend, daß bloß die eigentlichen Landbären Winterschlaf halten, während die Eis- oder Seebären auch bei der strengsten Kälte noch umherschweifen, oder sich höchstens bei dem tollsten Schneegestöber ruhig niederthun und sich hier durch den Schnee selbst ein Obdach bauen, d.h. einfach einschneien lassen.

Das trächtige Weibchen zieht sich in eine Höhlung zurück und wirft in ihr, gewöhnlich frühzeitig im Jahre, ein bis sechs Junge, welche blind geboren und von der Mutter mit aller Sorgfalt genährt, gepflegt, geschützt und vertheidigt werden. Sie gelten, nachdem sie einigermaßen beweglich geworden sind, als überaus gemüthliche, possirliche und spiellustige Thierchen.

Der Schaden, welchen die Bären bringen, wird durch den Nutzen, den sie uns gewähren, ungefähr aufgehoben, zumal sie theilweise nur in dünn bevölkerten Gegenden sich aufhalten, wo sie den Menschen ohnehin nicht viel Schaden zufügen können. Von fast allen Arten wird das Fell [157] benutzt und als vorzügliches Pelzwerk hochgeschätzt. Außerdem genießt man das Fleisch und verwendet selbst die Knochen, Sehnen und Gedärme.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Zweiter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Dritter Band: Hufthiere, Seesäugethiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 155-158.
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