Dichtungskraft

[259] Dichtungskraft. (Schöne Künste)

Das Vermögen, Vorstellungen von Gegenständen der Sinnen und der innern Empfindung, die man nie unmittelbar gefühlt hat, in sich hervorzubringen. Jeder Mensch besitzt dieses Vermögen mehr oder weniger, und vielleicht ist niemand, der nicht nach dem Beyspiel der Dinge, die er empfunden oder erfahren hat, andre, die gar nicht vorhanden sind, sich einbilde; aber den Künstlern ist sie in einem vorzüglichen Grad nothwendig.

Da sie uns die sinnlichen Gegenstände nicht eben so vorstellen, wie sie dieselben aus der Erfahrung haben, sondern so, wie sie dieselben zu einer desto lebhaftern Würkung gern empfunden hätten, so müssen sie einen ziemlichen Grad der Fertigkeit haben, solche Gegenstände nach ihren Absichten zu bilden. Auch müssen sie Dinge, die nicht sinnlich sind, unter ähnlichen sinnlichen Gestalten darstellen, um das, was der Verstand schweer oder nicht lebhaft genug fassen würde, vermittelst der Einbildungskraft lebhaft zu machen; sie müssen also sinnliche Gegenstände, die genaue Abbildungen nicht sinnlicher Vorstellungen sind, erdichten können. Unter den Künstlern hat der Dichter dieses Vermögen im höchsten Grad nöthig, weil er den weitesten Umfang der Vorstellungen zu bearbeiten sucht, und besonders auch deswegen, weil er niemals für die Sinnen, sondern für die Einbildungskraft arbeitet; daher er denn schlechterdings nöthig hat, Gegenstände zu erdichten, die der Einbildungskraft sinnlich darstellen, was auf die unmittelbarste Weise sich blos auf den Verstand bezieht. Es ist also nicht ohne Grund geschehen, daß ihm in unsrer Sprache der Namen Dichter vorzüglich beygelegt worden, ob er gleich auch andern Künstlern zukommt.

Durch die Dichtungskraft bekommen abgezogene und schweere Begriffe ein körperliches Wesen, wodurch sie lebhaft und leicht faßlich; durch sie bekommen Charaktere, Sitten, Handlungen und Begebenheiten den höchsten Grad der Wahrscheinlichkeit, indem jedes einzele dadurch in sein rechtes Licht gesetzt, und die Wahrheit des ganzen augenscheinlicher wird. Denn das, was würklich geschieht, ist, wie schon Aristoteles angemerkt hat, nicht immer das wahrscheinlichste; es läßt uns im Zweifel entweder über die Beschaffenheit der Sache, oder über ihre Ursachen: auch ist es nicht immer das, was in seiner Art die stärkste Würkung auf uns macht. Durch glükliche Erdichtungen hat Homer in der Person des Ulysses einen vollkommen weisen und in allen Anschlägen richtig handelnden Mann, in der Person des Achilles einen unüberwindlichen Helden, abgebildet. Durch die Dichtungskraft haben wir die lebhaftesten und reizendsten Vorstellungen, von der Seeligkeit des gottesfürchtigen und unschuldigen Lebens der Patriarchen, von der Glükseeligkeit des goldnen Weltalters; durch sie schreken uns die fürchterlichen Vorstellungen von der Hölle, die der Gottlose in seiner Seele herumträgt; durch sie wird das geistliche Wesen der Dinge uns sichtbar.1 Der Dichtungskraft haben wir die grossen und erhabenen Formen des Phidias und andrer griechischer Künstler, die erstaunlichen Charaktere in einigen Trauerspielen des Shakespear, die reizenden Muster der Tugend in den Schriften des Richardsons[259] zu danken. Man weiß aus der Erfahrung, daß erdichtete Gegenstände in Werken des Geschmaks gerade so rühren, als wenn sie würklich vorhanden gewesen wären, und daß ein Roman uns eben so intreßirt, als wenn alle seine Erzählungen würklich geschehene Dinge zum Grund hätten. So bald die Erdichtung wahrscheinlich ist, so begreifen wir die Möglichkeit der erdichteten Sache. Stellt die Erdichtung einen Charakter, eine That, eine moralische Handlung vor, so ist es eben so viel, als wenn man uns auf eine andre Weise deutliche Begriffe von diesen Sachen gegeben hätte; wir sehen daraus, wie Menschen denken, empfinden und handeln können. Dieses ist eben so viel, als ob wir die würkliche Erfahrung davon hätten. Sind es gute Muster, welche die Erdichtung uns dargestellt hat, so erweken sie eben die Bewunderung, oben den Trieb sich auf diese Vollkommenheit zu schwingen, als wenn die Sachen würklich vorhanden wären. Sind sie böse, so erweken sie eben den Abscheu, als die Würklichkeit. Stellt uns die Erdichtung Begebenheiten vor, so erkennen wir, was geschehen könnte, und dieses reizt unser Verlangen, unsre Bewunderung, unsern Abscheu, eben so gut, als wenn die Sachen geschehen wären. S. Theilnehmung, Wahrscheinlichkeit, Täuschung.

Die Dichtungskraft ist eine Eigenschaft der Einbildungskraft, und ist desto ausgedähnter, je lebhafter diese ist. Wem die Natur sie versagt hat, der kann den Mangel durch keinen Fleiß ersetzen. Aber wie alle Vermögen der Seele durch Uebung verstärkt werden, so kann man auch in der Dichtungskraft eine grössere Fertigkeit durch die Uebung erlangen. Durch diese gewöhnt man sich an, jeden Gegenstand, der uns vorkommt, erst genau zu betrachten, denn einiges darin anders zu denken, Umstände davon zu lassen, oder hinzuzuthun, und so entstehen erdichtete Gegenstände. Je mehr man nun erfahren hat, je leichter wird die Erdichtung. So wie einer, der eine grosse Anzahl Maschinen gesehen hat, deswegen leichter eine neue erfinden kann, weil er eine grosse Menge hiezu dienlicher Begriffe und Verbindungen im Kopf hat, so kann der, welcher die größte Erfahrung hat, auch leichter Erdichtungen machen.

Aber diese Dichtungskraft ist nur alsdenn wichtig, wenn sie von einem scharfen Verstand unterstützt wird, ohne welchen sie gar leicht ins Abentheuerliche ausschweifft. Darum muß in der Seele des Künstlers der Verstand eine völlige Herrschaft über die lebhafteste Würksamkeit der Einbildungskraft behalten. Man kann jungen Künstlern nicht ofte genug wiederholen, daß sie ihre größte Bemühung auf die Schärfung des Verstandes und eines gesunden Urtheils anwenden, weil nur dadurch die Erdichtungen in der Anlage und Erfindung wahrscheinlich und der Natur gemäß, in ihrer Würkung aber wichtig werden können.

1La favola é l'esser delle cose trasformato in geni humani ed é la verita travestita in sembianza popolare: perche il poeta da corpo a i concetti, e con animar l'insensato, ed avvolger di corpo lo spirito, converte in immagini visibili le contemplazioni eccitate dalla filosophia. Gravina L. I. c. 9.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 259-260.
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