Romanze

[988] Romanze. (Dichtkunst)

Ursprünglich bedeutet das Wort eben das, was wir izt durch Roman verstehen. Es kommt von der Romanschen, oder verdorbenen lateinischen Sprach her, in welcher die provenzalischen Poeten zuerst geschrieben haben. Sie sind zwar nicht die Erfinder der Romanzen, die in Spanien, England und andern Ländern schon vor diesen Dichtern bekannt genug gewesen, nur diesen Namen der Sache haben sie veranlasset.

Gegenwärtig giebt man den Namen Romanze kleinen erzählenden Liedern, in dem höchst naiven und etwas altväterischen Ton der alten gereimten Romanzen. [988] Der Inhalt derselben ist eine Erzählung von leidenschaftlichen, tragischen, verliebten, oder auch blos belustigenden Inhalt. Weil die Romanze zum Singen gemacht ist, so ist die Versart lyrisch, aber höchst einfach, wie sie in jenen Zeiten durchgehends war, von einerley Sylbenmaaß und von kurzen Versen. Gedanken und Ausdruk müssen in der höchsten Einfalt und sehr naiv seyn, wobey man sich der gemeinesten, auch allenfalls etwas veralterten Ausdrüke und Wortfügungen bedienet, die auch den geringsten Menschen leicht faßlich sind.

Sollen die Romanzen Personen von Geschmak gefallen, so müssen sie so viel vorzügliches haben, daß mehr, als gemeiner Geschmak zu deren Verfertigung erfodert wird. Sie müssen uns in jene Zeiten versezen, wo die Menschen überaus wenig über das Gemeine gehende Begriffe hatten, wo sie bey großem Mangel wissenschaftlicher oder genau überlegter Kenntnisse, doch nicht unverständig oder barbarisch waren. Wo Aberglauben, Leichtgläubigkeit und Unwissenheit nichts anstößiges haben; weil sie dem übrigen, das zum Charakter der Zeiten und Sitten gehöret, in keinem Stük wiedersprechen; wo die Empfindungen den geraden einfältigen Weg der Natur gehen, das Urtheil aber über Gegenstände des strengen Nachdenkens, blos fremden Einsichten oder Vorurtheilen folget. Denn muß man auch die Sprach und den Ton solcher Zeiten annehmen; denken und sprechen, nicht, wie die albern und ungesitteten, sondern wie die verständigen und gesitteten Menschen damals gedacht und gesprochen haben.

Wenn dieses alles bey der Romanze getroffen ist, so kann sie großes Vergnügen machen, und bis zu Thränen rühren. Es geht uns alsdenn, wie noch izt, wenn wir uns unter einfältigen und nur in der Schule der Natur erzogenen, sonst nicht übel gearteten Menschen finden, an deren Vergnügen und Leid, wir ofte herzlichen Antheil nehmen.

Unsere Dichter haben sich angewöhnt der Romanze einen scherzhaften Ton zu geben und sie ironisch zu machen. Mich dünkt, daß dieses dem wahren Charakter der Romanze gerad entgegen sey. Eine scherzhafte Erzählung im lyrischen Ton, ist noch keine Romanze.

Ueber den Gesang der Romanze hat Rousseau alles gesagt, was man dem Tonsezer darüber sagen kann; daher ich nichts bessers thun kann, als ihn zu übersezen.

»Weil die Romanze in einer einfachen, rührenden Schreibart geschrieben, und von etwas altvätern Geschmak seyn muß; so muß auch der Gesang diesen Charakter haben; nichts von Zierrathen, nichts von Manieren, eine gefällige, natürliche, ländliche Melodie, die durch sich selbst, ohne die Kunst des Vortrages ihre Würkung thue. Der Gesang därf nicht hervorstechend seyn, wenn er nur naiv ist, die Worte nicht verdunkelt, sie sehr vernehmlich vorträgt und keinen großen Umfang der Stimm erfodert.

»Eine wolgesezte Romanze, rühret, da sie gar nichts vorzügliches hat das schnell reizt, nicht gleich; aber jede Strophe verstärkt den Eindruk der vorhergehenden; das Interesse nihmt unvermerkt zu, und bisweilen ist man bis zum Thränen gerühret, ohne sagen zu können, wo diese Kraft liegt. Es ist eine gewisse Erfahrung, daß jedes den Gesang begleitende Instrument diese Würkung schwächet.«1

Ob die hier angeführte Erfahrung so völlig gewiß sey, kann ich nicht sagen; aber ich habe Romanzen von einer Mandolin begleitet gehört, die bey mir volle Würkung thaten.

1Dict. de Musique Art. Romance.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 988-989.
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