Reichstag

[142] Reichstag heißt in mehrern Europäischen Staaten, namentlich in Deutschland, Schweden, Ungarn und dem ehemahligen Pohlen, die Versammlung [142] des Oberhaupts und der Stände, worin die letztern an der Regierung des Staats denjenigen Antheil nehmen, der ihnen vermöge der Constitution zukommt. Wir beschäftigen uns hier ausschließend mit dem Deutschen Reichstage. Man versteht darunter die Versammlung der sämmtlichen Reichsstände, die der Kaiser zusammen beruft, um diejenigen Majestätsrechte auszuüben, welche nach den Reichs-Grundgesetzen Einwilligung und Mitwirkung der Stände erfordern. Der Kaiser kann nehmlich ohne Theilnahme der Stände bloß die so genannten Reservatrechte (welche bei d. Artikel Reichs-Hofrath aus einander gesetzt worden sind) ausüben; bei allen übrigen Majestätsrechten ist die Einwilligung der Stände nöthig. Sie sind also wahre Mitregenten, wenn Krieg, Friede und Bündnisse beschlossen, Reichslande veräußert oder verpfändet, neue Gesetze gegeben, Polizeianstalten errichtet, oder solche Handlungen ausgeführt werden sollen, welche auf das ganze Reich oder auf die Freiheiten der Stände Einfluß haben. Allein so wesentlich auch in diesen Stücken ihre Mitwirkung, und so unstreitig ihr Recht ist, Vorschläge darüber zu thun, so hat doch ohne Einwilligung des Kaisers keiner ihrer Beschlüsse Gültigkeit. Der Reichstag ist also das Band, welches die zahllosen Deutschen Staaten zusammenhält, und zugleich der Vereinigungspunkt der gesammten auswärtigen Mächte, weil auf demselben alle Angelegenheiten des Reichs verhandelt werden, die auf das Ausland Bezug haben. – Der Kaiser, welcher das Recht hat, nach gehaltener Verabredung mit den Churfürsten Reichstage auszuschreiben, hielt dieselben ehemahls an verschiedenen Orten und zu beliebigen Zeiten; auch waren sie von kurzer Dauer. Nach dem Schlusse des letzten Reichstags aber, der von 1652 bis 1654 zu Regensburg gehalten wurde, häuften sich die Geschäfte so sehr, und das Bedürfniß einer beständigen Communication zwischen Kaiser und Reich wurde so lebhaft gefühlt, daß der neue Reichstag, welcher 1663 ebenfalls zu Regensburg eröffnet wurde, noch immer fort dauert, und wahrscheinlich beständig sein wird, bis etwa, nach Josephs II. Weißagung, der Versammlungsort einstürzt; daher er auch der immerwährende oder fortwährende genannt wird. Die Stände, welche nebst dem Kaiser seit langer Zeit nicht in Person, sondern durch Deputirte erscheinen, bestehen aus den Churfürsten, Fürsten und Reichsstädten, [143] und bilden drei besondere Räthe und Collegien, und zwar 1) den Churfürsten Rath (dessen Director Mainz ist, mit 8 Stimmen), 2) den Fürsten-Rath (in dessen Directorium Salzburg und Oestreich wechseln, mit 100 Stimmen), und 3) das Reichsstädtische Collegium (dessen Directorium die Reichsstadt führt, in welcher der Reichstag gehalten wird, mit 51 Stimmen). Der Fürsten-Rath besteht aus den geistlichen und alten weltlichen Fürsten, von denen jeder eine Stimme hat, er müßte denn mehrere Fürstenthümer zugleich besitzen, in welchem Falle er für jedes, derselben eine Stimme abgiebt; auch gehören dazu die Prälaten und Reichsgrafen. Doch führen die Prälaten, welche in zwei Bänke, die Schwäbische und Rheinsche, vertheilt sind, im Ganzen genommen nur zwei Stimmen; und die Reichsgrafen, welche vier Collegien (das Wetterauische, Schwäbische, Fränkische und Westphälische) ausmachen, haben auch nur vier Stimmen. Zwar wird alles durch Stimmenmehrheit entschieden: allein jedes Collegium bildet für sich ein Ganzes, und stimmt besonders nach einer durch Herkommen festgesetzten Ordnung; und es wird zu einem Beschluß nicht etwa bloß Uebereinstimmung zweier, sondern völlige Einstimmigkeit aller drei Collegien erfordert. Die Polizei des Reichstags verwaltet eigentlich der Reichs-Erzmarschall (also Chursachsen), jetzt aber an dessen Stelle der Reichs-Erbmarschall, durch eine besondre Canzlei; das Directorium des Ganzen führt Churmainz. Die Stelle des Kaisers vertritt ein Principalcommissarius (der ein Reichsfürst sein muß) nebst einem Concommissarius; und beide zusammen heißen die kaiserliche Commission, so wie die Vorschläge, die der Kaiser durch sie thun läßt, Commissionsdecrete genannt werden. Schickt aber der Kaiser unmittelbar einen Vorschlag oder Entwurf an die Versammlung, so wird derselbe ein Hofdecret genannt. – Die Form der Berhandlungen ist folgende: Jede Vorstellung, die entweder der Kaiser oder ein Reichsstand machen will, muß vorher dem Mainzer Directorio mitgetheilt werden. Gesandte fremder Mächte überreichen ihre Propositionen[144] schriftlich. Hierauf macht der Deputirte des Reichs-Erbmarschalls den Gegenstand der Berathschlagungen in einem Ansagezettel kürzlich bekannt; und in der folgenden Sitzung wird darüber von Mainz die Reichsdictatur angestellt, d. h. die Sache wird allen anwesenden Deputirten in die Feder dictirt oder auch gedruckt ausgetheilt. Hierauf berathschlagen sich alle drei Collegien, jedes einzeln, in einem besondern Zimmer, bisweilen auch noch unter sich in Nebenzimmern: doch können auch alle Stände auf einem zu Conferenzen und nöthiger Rucksprache bestimmten Saale zusammenkommen, welcher der Re- und Correlationssaal heißt; und hier versammeln sich gewöhnlich die beiden höhern Collegien vor Anfang ihrer besondern Deliberationen. Die Stimmen werden in den einzelnen Collegien laut dictirt, und aus dem Resultat der Stimmenmehrheit ein Conclusum des Collegiums gezogen. Das churfürstliche und das fürstliche stimmen zuerst, und eröffnen sich dann ihre Conclusa, welche Mittheilung Re- und Correlation heißt; und wenn endlich auch die Reichsstädte gestimmt und ihr Conclusum abgefaßt haben, so wird eben diese Re- und Correlation noch mit ihnen angestellt, bis alle drei Collegien einig sind. Ist diese Einigkeit bewirkt, so wird ein Conclusum aller drei Collegien ausgefertigt, welches jedoch nur in dem seltnen Falle sogleich als Gesetz gelten kann, wenn nach Verträgen und Herkommen der Kaiser nicht befragt zu werden braucht, auch die Ausübung der kaiserlichen Majestätsrechte mit dem Gegenstand der Berathschlagung nichts gemein hat; außerdem aber schicken die drei Stände ein Reichsgutachten, d. h. eine Bitte um Genehmigung, durch den Principalcommissarius an den Kaiser, welcher sodann ein Ratificationsdecret ausstellt. Sobald nun endlich Churmainz dieses Decret der Versammlung vorgetragen hat, so wird aus demselben und dem gemeinschaftlichen Concluso der drei Collegien ein Reichsschluß abgefaßt, welcher völlige gesetzliche Kraft hat. – Ehemahls wurden beim Schlusse des jedesmahligen Reichtags die sämmtlichen Schlüsse desselben zusammen publicirt, und bekamen sodann den Namen Reichsabschied (recessus imperii). Der letzte dieser Reichsabschiede, die als Gesetze für Staats- und Privatrecht sehr wichtig sind, erschien 1654 zu Regensburg. – Noch müssen wir erwähnen, [145] daß durch den Westphälischen Frieden (1648) »in allen Religionssachen, und in solchen Fällen, wo die Stände wegen getheilten Interesseʼs nicht als ein Ganzes betrachtet werden können,« eine andere Art zu votiren, als durch Stimmensammlung, eingeführt worden. Man sah voraus, daß bei der Stimmenmehrheit die Rechte Einzelner leicht verletzt werden konnten, indem die katholische Partei mehr Staaten besaß, als der protestantische Reichstheil. In solchem Falle treten beide Parteien auf besondere Seiten des Saales zusammen, und suchen sich unter Vermittelung des Kaisers oder auch ohne dieselbe in Güte mit einander zu vergleichen, welches sodann der einzige mögliche Weg zur Vereinigung ist; dieses heißt Jus eundi in partes, und ist besonders bei Verhandlungen zwischen dem Corpore Evangelicorum et Catholicorum gebräuchlich. – (Vom Recurs an den Reichstag s. d. Art. Reichs-Hofrath).

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 4. Amsterdam 1809, S. 142-146.
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