Scholastik

[101] Scholastik nennt man diejenige Richtung der Philosophie, welche sich in den gelehrten Schulen der christlich-germanischen Welt ausbildete, als man mit den philosophischen Schriften des Alterthums, namentlich des Aristoteles (s.d.) und seiner Erklärer bekannt wurde und die gewonnene wissenschaftliche Bildung benutzte, um die in der christlichen Offenbarung enthaltene Wahrheit vor dem menschlichen Verstande zu rechtfertigen und zu verherrlichen. Die alte griech. Philosophie war von der Religion durchaus unabhängig und ging darauf aus, ein Reich der Wahrheit zu erbauen, welches seinen alleinigen Grund in dem Selbstbewußtsein des Menschen hätte. Dagegen nehmen die Scholastiker an, daß die Wahrheit eine durch die Offenbarung Gottes gegebene sei, und daß die höchste Aufgabe des menschlichen Verstandes nur die sein könne, sich so weit auszubilden, um sich ein Verständniß der gegebenen göttlichen Wahrheit zu verschaffen; daß aber, wo Philosophie und Religion in Widerspruch geriethen, stets der menschliche Verstand unter die Offenbarung gefangen zu nehmen sei. Auf diese Weise wurde die Philosophie in ihrer wissenschaftlichen Freiheit aufgehoben und ihr nur die Würde einer Dienerin der Theologie, als derjenigen Wissenschaft, welche es im Allgemeinen mit Rechtfertigung und Verherrlichung der Religion zu thun hat, zuerkannt. Allerdings gab es schon im Mittelalter einzelne Philosophen, welche die Freiheit der philosophischen Wissenschaft herzustellen bemüht waren, indem sie erkannten, daß zwischen Religion und Philosophie ein solcher formeller Unterschied bestehe, daß diese sehr wohl als freie Entwickelung des Selbstbewußtseins des menschlichen Geistes bestehen könnte, ohne die Religion zu beeinträchtigen; aber erst seit der Reformation konnte es wieder zu einer selbständigen Philosophie kommen, welche allmälig die Scholastik völlig verdrängt hat. Durch die Reformation wurde nämlich die Offenbarung aller menschlichen Auslegung, wie sich diese im Katholicismus an die Stelle des echten Wortes Gottes gesetzt hatte, entzogen und die Philosophie damit ihrer Dienerschaft entlassen. Man ließ den [101] menschlichen Geist frei mit der die Macht des Glaubens auf das glorreichste beurkundenden Gewißheit, daß der menschliche Verstand keine höhere Wahrheit zu erfinden vermöge, als die Eine gegebene. Die Lehrer und Schüler der Scholastik, die Scholastiker, waren zum Theil höchst tiefsinnige und scharfsinnige Gelehrte, wie Joh. Scotus Erigena, Albert der Große, Abälard, Joh. Duns Scotus, Thomas von Aquino, Bonaventura und viele Andere, zum Theil geriethen sie aber auch auf Abwege, indem sie die gewonnene dialektische Bildung benutzten, um Spitzfindigkeiten zu erfinden und zu lösen, und um in öffentlichen Disputationen zu glänzen, ohne daß es ihnen mit der Erkenntniß ewiger Wahrheit ein würdiger Ernst war. Dadurch ist die Scholastik in den üblen Ruf lächerlicher und unnützer Sucht nach Spitzfindigkeiten gekommen. Innerhalb der Scholastik selbst gab es verschiedene Richtungen, welche sich theils auf das Verhältniß der Philosophie zur Offenbarung, theils auf die Art der Benutzung der alten philosophischen Schriftsteller, theils auf die Art der Rechtfertigung der Kirchenlehre durch die Wissenschaft bezogen. Der wichtigste und am tiefsten begründete Gegensatz war der der Realisten und Nominalisten. Jene behaupteten, daß das Reich der Idee alleinige und völlige Wirklichkeit besitze, sodaß allen irdischen Dingen dagegen nur ein scheinbares Dasein zukomme, wogegen diese die Ideen nur einen leeren Hauch des Mundes nannten, und alle Wirklichkeit in der Existenz der einzelnen Dinge als solcher suchten. Eine Art von Scholastik, aber viel schwächer und ohnmächtiger als die alte, hat sich noch in den katholischen Ländern, namentlich in Italien und Spanien erhalten, wo die neuere Philosophie nicht hin zu dringen vermocht hat.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 101-102.
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