Völkerrecht

[621] Völkerrecht (das) begreift die Gesammtheit der Rechte und Verbindlichkeiten von Völkern und Staaten gegeneinander und ist im engern Sinne gleichbedeutend mit Staatenrecht, da Völker, wenn sie einigermaßen in der Bildung vorgeschritten sind, sich stets auf gewisse Weise auch politisch constituirt haben, daher sich wie Staaten zueinander verhalten. Wie das Recht überhaupt, zerfällt auch das Völkerrecht in das natürliche oder philosophische, auch allgemeine, und in das positive oder willkürliche. Das natürliche folgt rein aus der Idee des Rechts oder dem Rechtsgesetz der Vernunft, welches im Allgemeinen auf die Verhältnisse der Staaten zueinander angewendet wird, und gehört mit zum Naturrecht, welches deshalb auch Natur- und Völkerrecht genannt wird. Gegenstände desselben sind die Rechte der politischen Persönlichkeit oder Selbständigkeit des Staats und die daraus fließenden in Hinsicht auf Regierung, Verfassung, Gebiet, Eigenthum, Freiheit von Handel und Verkehr, Verträge, Gesandtschaften, Krieg und Frieden. Das positive oder willkürliche muß sich auf die Grundsätze des natürlichen stützen, wird aber theils durch das Herkommen, welches in dieser Hinsicht auch Völkerbrauch und Völkersitte genannt wird, theils durch besondere Verträge oder Überkünste näher bestimmt. Was in solcher Beziehung unter den meisten und größten europ. Staaten durch Gebrauch oder Vertrag als Grundsatz eingeführt ward und gilt, macht das allgemeine europ. Völkerrecht aus, für welches jedoch die im Namen scheinbar angedeutete geographische Begrenzung keineswegs besteht. Dasselbe hat vielmehr im ganzen Gebiete europ. Cultur Geltung und wie früher die europ. Türkei diesem nicht angehörte, so hatte sich andererseits Nordamerika demselben von Anfang angeschlossen. Das Völkerrecht ist ein Friedensrecht, so lange die Völker dasselbe beobachten, um friedlich miteinander zu leben. Vermögen sie sich aber über entstandene Irrungen nicht gütlich zu verständigen und fodern dieselbe Entscheidung durch Waffengewalt, so erscheint es als Kriegsrecht. Denn obgleich im Kriege weniger vom Rechte als von der Gewalt die Rede ist, haben doch alle gebildete Völker von jeher anerkannt, daß auch im Kriege nicht Alles rechtlich und sittlich erlaubt sei, was die Macht vermöge. Die Vernunft fodert in allen Lebensverhältnissen der Menschen, und wenn sie sich auch feindlich entgegentreten, die Anerkennung des Rechtsgesetzes. Unbewaffnete Bürger, Frauen, Kinder u.s.w. werden dadurch, so lange sie sich friedlich verhalten, gegen die bewaffneten Feinde in Schutz genommen und Kriegsgefangene nach der Entwaffnung unter den Schutz der Sieger gestellt. Schon im Alterthume galten völkerrechtliche Grundsätze, wie z.B. die Heiligkeit der Gesandten, deren Zulassung und Beschützung zu den unterscheidenden Merkmalen der Civilisation im Gegensatze zur Barbarei gehörte, sowie die bei den Römern zu gerechter Feindseligkeit als nothwendig erachtete Kriegserklärung. Nachdem das Christenthum zur äußern Herrschaft gelangt war, machte die Meinung, daß andere Völker nöthigenfalls und pflichtmäßig mit Gewalt zu bekehren wären und deshalb kein eigentlicher Friede mit ihnen gestattet sei, daß das Völkerrecht nur für christliche Staaten gültig betrachtet wurde. Wissenschaftlich bearbeitet ward es erst seit dem 16. Jahrh. wieder, wo sich Hugo Grotius (s.d.) den Namen des Vaters des Natur- und Völkerrechts erwarb; später und bis auf die neueste Zeit haben sich Samuel Pufendorf, Christian Wolf, Glafey, De Vattel, I. I. Moser, Achenwall, von Martens, von Ompteda, Saalfeld, Klüber u. A. um Bearbeitung des allgemeinen und des besondern europ. Völkerrechts verdient gemacht.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 621.
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