Baukunst

[464] Baukunst ist im Allgemeinen die Kunst, ein Bauwerk auszuführen. Nach der Mannichfaltigkeit der Bauwerke unterscheidet man denn Brücken-, Mühlen-, Schiffs-, Wasser-, Straßen- [464] Baukunst. Unter bürgerlicher Baukunst versteht man die Kunst, alle Arten von Gebäuden, die im bürgerlichen Leben gebraucht werden, herzustellen. Ein Gebäude ist gut gebaut, wenn es dem Zwecke, zu dem es bestimmt ist, entspricht. Die Baukunst verdankt ihre Entstehung der Noth, welche die Menschen zwang, sich und ihr Eigenthum vor Wind und Wetter, vor Thieren und Menschen in Sicherheit zu bringen, so wie durch Anlage von Straßen, durch Wasserbauten, Herstellung von Schiffen u. s. w. den Verkehr, den Handel und die Bequemlichkeit des Lebens zu fördern. Bald aber machte man die Anforderung geltend, daß ein Gebäude nicht nur zweckmäßig sein, sondern auch dem Auge einen wohlgefälligen Anblick darbieten sollte. Deßwegen begann man zeitig schon Verzierungen bei den Gebäuden anzubringen, und die Theile derselben so zu ordnen, daß Symmetrie unter ihnen sichtbar wurde. Die Regeln der Schönheit in der Baukunst lehrt die sogenannte schöne Baukunst, welche, da diese Regeln durch den Geist des Menschen ihre Bestimmung erhalten, ein Recht hat, unter die wahren Künste gezählt zu werden. Am freiesten konnte die schöne Baukunst an denjenigen Bauwerken auftreten, welche am wenigsten durch das Bedürfniß bestimmt wurden, also zuerst an den Tempeln, die man der Gottheit errichtete, denn hier war nicht ein leibliches Bedürfniß, sondern allein ein geistiges das bestimmende. Bei weiterer Entwickelung des menschlichen Geistes wurden auch die Gebäude zahlreicher und mannichfaltiger, welche um seinetwillen errichtet wurden. Es wurden Theater, Museen u. s. w. erbaut, und die schöne Baukunst gewann einen immer größern Spielraum, auf welchem sie sich freier, als bei alleiniger Verschönerung, Ausschmückung von Gebäuden, welche die Noth erforderte, bewegen konnte. Namentlich an denjenigen Gebäuden, welche eine freiere Schöpfung des Geistes waren, sehen wir daher auch die charakteristischen Zeichen des Geistes, der sie schuf. Wie der Menschengeist selbst ein anderer und anderer wird in immer vollkommenerer Entwickelung, so ist[465] auch hie Kunst, in der er sich offenbart, eine andere geworden. Die düstern, in Fels gehauenen Tempel der Indier entsprechen dem tiefsinnigen, aber unklaren Geiste jenes Volkes, die riesigen, steifen, ungefügten Formen der ägyptischen Bauart, die heitern, leichten schlanken Formen der griechischen, sind eben so unter sich unterschieden, wie der Geist Aegyptens und Griechenlands. Die himmelan. strebende gothische Bauart, wo unzählige Einzelheiten, jede den Charakter des Ganzen tragend, in einander sich schließen und aus ihrer Unzähligkeit doch nur Ein in sich vollendetes Ganzes hervorgeht, das, immer durchsichtiger und zarter werdend, endlich in den Himmel sich verliert; sie ist die Schöpfung des vom Christenthum durchdrungenen Geistes. Endlich die Baukunst unserer Zeit – die Charakterlosigkeit ist ihr Charakter. Wir haben keine bestimmt ausgebildete allgemeine Form des Geistes, und so auch keine bestimmte Kunst; wir würdigen Alles, Heidenthum und Christenthum, und vermischen die Charaktere verschiedener Zeitalter der Baukunst, wie uns am zweckdienlichsten scheint, um den oben beabsichtigten Eindruck hervorzubringen.

O. M.

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 1. Leipzig 1834, S. 464-466.
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