Talent

[479] Talent (talentum, talanton. vgl. Matth. 25, 15 ff.), ist ein bestimmtes geistiges »Vermögen«, welches das Individuum als Anlage ererbt und welches durch Übung (s. d.) zu einer besonders leichten, sicheren, geschickten, erfolgreichen Function gestaltet werden kann. Angeboren ist im Talente eine mehr oder weniger umgrenzte psychophysische Dispositionssphäre für die leichtere und bessere Ausführung von Coordinationen, resultierend aus Dispositionen der Sinnes-, Bewegungsorgane, der Phantasie, des abstracten Denkens u. s. v,. (technisches, künstlerisches, wissenschaftliches Talent u. dgl.). Das Talent ist als solches einseitig, es hat (im engeren Sinne) nicht die schöpferische Originalität des Genies (s. d.).

Nach KANT ist Talent »diejenige Vorzüglichkeit des Erkenntnisvermögens, welche nicht von der Unterweisung, sondern der natürlichen Anlage des Subjects abhängt« (Anthropol. I, § 52). G. E. SCHULZE erklärt Talent für »eine von der Natur verliehene Anlage oder Befähigung zu vorzüglichen Äußerungen der Selbsttätigkeit des Geistes« (Psych. Anthrop. S. 225). Nach FRIES sind Talente »vorzügliche natürliche Anlagen des erkennenden Geistes« (Syst. d. Log. S. 345). Nach C. G. CARUS ist das Talent »eine in der Sphäre und innerhalb einer gewissen Richtung des Weltbewußtseins besondere Befähigung der Seele«, Genie hingegen »eine besondere Erleuchtung und höhere Energie der Seele in der Sphäre des Selbstbewußtseins« (Vorles. S. 421. vgl. STEFFENS, Anthropol. S. 198 ff.. MICHELET, Anthropol. S. 135 ff.. BIUNDE, Empir. Psychol. I 2, 115). Nach HILLEBRAND ist Talent »die Selbsttätigkeit der Seele in ihrer abstracten Productivität« (Philos. d. Geist. I, 340). SCHOPENHAUER bemerkt: »Das Talent vermag zu leisten, was die Leistungsfähigkeit, jedoch nicht die Apprehensionsfähigkeit der übrigen überschreitet... Hingegen geht die Leistung des Genies nicht nur über die Leistungs-, sondern auch über die Apprehensionsfähigkeit der andern hinaus« (Welt als Wille u. Vorstell. II. Bd., C. 31). Nach SIGWART ist Talent »die angeborene Geschicklichkeit für bestimmte Kreise der Tätigkeit, vermöge deren wir imstande sind, unsere Vorstellungen unter sich und mit Handlungen zweckmäßig zu combinieren, um das Gelernte zu neuer Erfindung zu verwerten« (Kl. Schr. II2, 233). Nach G. SIMMEL ist die angeborene specielle Begabung ein besonders günstiger Fall des Instincts, nämlich derjenige, »in dem die Summierung solcher physisch verdichteten Erfahrungen ganz, besonders entschieden nach einer Richtung hin und in einer solchen Lagerung der Elemente erfolgt ist, daß schon der leisesten Anregung ein fruchtbares Spiel bedeutsamer und zweckmäßiger Functionen antwortet« (Philos. d. Geld. S. 438). Eine »reich und leicht ansprechende Coordination vererbter Energien«, das »condensierte Resultat der Arbeit von Generationen« liegt hier vor (ib.). Nach WUNDT besteht ein angeborenes Talent »mindestens in gleichem Maße in der Anlage zur Ausbildung gewisser Associationsbeziehungen wie in der Begünstigung von zusammengesetzten Bewegungsformen. In allen diesen Fällen ist aber daran festzuhalten, daß nur die Anlage, nie aber die fertige Leistung angeboren sein kann«. Das Talent bedarf der Einübung, durch die es erst die Fertigkeit sich wirklich aneignet, die durch seine angeborene Beschaffenheit begünstigt wird (Vorles.2 S. 441 f.). Talent eines Menschen ist »die Gesamtanlage, die ihm infolge der besonderen Richtungen sowohl seiner Phantasie – wie seiner Verstandesbegabung eigen ist« (Gr. d. Psychol.5, S. 324). Vier Hauptformen des Talentes gibt es: beobachtendes, erfinderisches, zergliederndes, speculatives Talent (Grdz. d. phys. Psychol. II4, 496). Nach HELLPACH: besteht das Talent in dem Gleichgewichtsverhältnis,[479] das Verstand und Phantasie gegeneinander bilden (Grenzwiss. d. Psychol. S. 16). »Das Talent äußert sich lediglich in ausgezeichneter Betätigung auf irgend einem Gebiete des Schaffens. Das Genie dagegen ist ein Markstein in der Entwicklung, ist die Vollziehung einer lange vorbereiteten und ersehnten schöpferischen Tat« (l. c. S. 498. vgl. S. 505). Vgl. NORDAU, Paradoxe. Vgl. Genie, Anlage.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 479-480.
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