Der Landkrieg. Der böotische Einheitsstaat. Iason von Pherä

[378] Sparta suchte der Propaganda Athens durch Gesandtschaften639 entgegenzuwirken; als seine nächste Aufgabe aber betrachtete es mit Recht die Bezwingung Thebens. Im Sommer 377 rückte Agesilaos zum zweitenmal in Böotien ein. Die Thebaner und Athener unter Chabrias wiederholten die Taktik des letzten Feldzugs. Auch diesmal hat Agesilaos in raschem Überfall die Palisadenkette durchbrochen und das thebanische Gebiet weithin verwüstet. Aber so geschickt er operierte, eine Feldschlacht konnte er nicht erzwingen. Einmal wäre es ihm beinahe gelungen, durch einen Seitenmarsch das von Verteidigern entblößte Theben zu überfallen; als aber das thebanische und athenische Heer im Eilmarsch aus der festen Stellung, in der es ihn erwartet hatte, herbeikam und den Kampf aufnahm, wurden die spartanischen Reiter und Skiriten, welche sich ungestüm vorgewagt hatten, zurückgeworfen. Die Schlappe war trotz des geringen Verlustes an Menschenleben für Sparta äußerst empfindlich; sie bewies, daß es seiner taktischen Überlegenheit nicht mehr sicher war. Einen neuen Kampf lehnten die Feinde auch diesmal ab; Agesilaos mußte sich nach Thespiä [378] zurückziehen. Die verfolgenden Peltasten wurden von den olynthischen Reitern geschlagen; aber Agesilaos konnte nichts mehr ausrichten und trat wie im vorigen Jahr den Heimweg an640. – Der ergebnislose Verlauf der beiden Feldzüge bedeutete für Sparta fast so viel wie eine Niederlage. Die Feinde hatten sich nicht, wie fünfzig Jahre zuvor die Athener, hinter die Mauern zurückgezogen, sondern das Feld behauptet und kleine Erfolge errungen. Die Bundesgenossen waren sämtlich noch botmäßig und leisteten Heeresfolge, selbst die Olynthier, aber sie waren unlustig und aufsässig. Ein rascher Erfolg hätte sie mit fortgerissen; die resultatlosen Operationen brachten das Bewußtsein zum Durchbruch, daß sie nicht, wie ehemals gegen Athen, für die eigene Sache, sondern für eine fremde und ungerechte Zwingherrschaft kämpften. Nur mit Mühe konnte Agesilaos sie dazu bringen, das thebanische Gebiet zu verheeren und die Bäume umzuhauen; und schon wurden Stimmen laut, daß die spartanischen Truppen nur einen kleinen Teil des Heeres ausmachten – worauf Agesilaos ihnen allerdings drastisch vor Augen führte, daß seine Mannschaften sämtlich Krieger von Beruf, die ihrigen zum Kriegsdienst gepreßte Handwerker seien. Den Thebanern wuchs der Mut; allerdings hatten sie unter der Verwüstung ihrer Felder schwer zu leiden und konnten nur mit Mühe aus Thessalien Zufuhr beziehen, da der Landweg durch Orchomenos und die Phoker gesperrt war und die spartanische Besatzung in Hestiäa die See beherrschte. Aber mit Recht haben die Zeitgenossen die Invasionen des Agesilaos als die Kriegsschule Thebens bezeichnet; die Bürgerschaft lernte sich fühlen und gewann das Vertrauen, im Felde den Feinden gewachsen zu sein. Schon bei Delion hatte die tiefe Aufstellung des thebanischen Hoplitenkorps die Entscheidung gebracht (Bd. IV 2, 114); jetzt gab Gorgidas dem ersten Gliede größere Festigkeit, indem er es aus 300 auserwählten, in fester Freundschaft bis zum Tod verbundenen Bürgern bildete. Diese »heilige Schar«641 hat dann [379] Pelopidas nach dem Siege bei Tegyra (u. S. 381) als selbständigen Truppenkörper formiert, der den Kern der Phalanx bildete. Theben konnte der Zukunft mit Vertrauen entgegensehen. Es kam hinzu, daß Agesilaos auf dem Rückmarsch in Megara schwer erkrankte und jahrelang kein Kommando wieder übernehmen konnte. Als im Frühjahr 376 Kleombrotos in Böotien einrücken wollte, hatten die Thebaner die Kithäronpässe besetzt, die Agesilaos sich jedesmal vorher gesichert hatte. Kleombrotos, der wie sein Bruder (o. S. 288) die Politik des Agesilaos im Herzen mißbilligte, wagte nicht, sie zu stürmen; er gab den Feldzug auf und entließ sein Heer642. – Überdies war schon im Herbst 377 Hestiäa durch die Sorglosigkeit des spartanischen Kommandanten Alketas von der gefangenen Rudermannschaft zweier thebanischer Schiffe, die sich frei machte, besetzt worden643. Damit hatte Theben auch die See und die Zufuhr frei.

Jetzt hatte Theben gegen Böotien freie Hand. In der Stadt hatte die Demokratie die volle Herrschaft gewonnen; die spartanisch gesinnten Oligarchen waren erschlagen oder verbannt, ihr Vermögen konfisziert. Die Folge war, daß die Demokraten Böotiens überall den Anschluß an Theben ersehnten, und vielfach bereits nach Theben auswanderten644; in Thespiä wäre es bei Agesilaos' Rückzug 377 beinahe zum Bürgerkrieg gekommen645. Die thebanische Demokratie hatte mit der Bestellung von Böotarchen (o. S. 365f.) das Programm der Einigung Böotiens unter Theben sofort wieder aufgenommen, aber diesmal nicht mehr in der Form des alten Bundesstaates, sondern eines Einheitsstaates646 nach dem [380] Muster Olynths. Alle Städte sollen ihre Selbständigkeit verlieren und zu Dörfern nach Art der attischen Demen degradiert werden; auch Theben selbst geht in den böotischen Einheitsstaat auf, wenn es auch Sitz der Regierung und der Volksversammlung bleibt, wie Athen und Olynth. Daher hat Theben auch die lokale Münzprägung aufgehoben; der neue Staat prägt nur noch Münzen mit seinem Wappen, dem böotischen Schild, und dem Namen des prägenden Böotarchen, aber ohne Stadtnamen. Die alte, auf die Bundesstädte Rücksicht nehmende Zahl von 11 Böotarchen wird auf 7 reduziert647 und diese aus der Gesamtheit gewählt. – Nach dem Scheitern der spartanischen Invasion konnte Theben an die Ausführung des Programms gehen, unter Führung von Gorgidas, Pelopidas, Charon. Noch behaupteten in allen Landstädten die Oligarchen das Regiment, gestützt auf die spartanischen Besatzungen und Harmosten; aber seitdem nach der Sperrung des Kithäron die Verbindung mit dem Peloponnes nur noch zur See, über Kreusis am Korinthischen Golf oder durch Phokis, offen war, wurde ihre Stellung stets schwieriger. Die gleichzeitigen Seesiege Athens (u. S. 385f.) gestatteten Theben, Jahr für Jahr neue Erfolge zu gewinnen. Charon siegte in einem Reitergefecht bei Platää648, Pelopidas versuchte im J. 375 einen Handstreich auf Orchomenos und schlug sich, als zwei spartanische Moren ihm den Rückweg verlegten, bei Tegyra durch dieselben durch – zwar sein Unternehmen mußte er aufgeben, aber es war der erste zweifellose Sieg über Spartaner im offenen Felde649. Auch Thespiä wurde genommen. Zu Anfang 374 waren die meisten böotischen Städte freiwillig oder [381] gezwungen dem Gesamtstaate beigetreten650; die Oligarchen wurden beseitigt, die Mauern niedergelegt. Nur Orchomenos im Norden und Platää im Süden, die alten Feinde Thebens, hielten an Sparta fest und wiesen jede Verbindung ab, und auf Oropos651 (u. S. 387) legte Athen die Hand als seinen alten und rechtmäßigen Besitz.

Durch die Fortschritte Thebens wurde der Norden Griechenlands den Einflüssen Spartas entzogen. Dadurch wurde es dem tatkräftigen Tyrannen Iason von Pherä652 (o. S. 294) möglich, ungestört seine Macht auszudehnen; binnen wenigen Jahren hatten alle Städte Thessaliens mit Ausnahme von Pharsalos freiwillig oder gezwungen seine Oberhoheit anerkannt, ebenso eine Anzahl von Nachbarstämmen, wie die Doloper und der Molosserkönig. Er war eine Persönlichkeit wie Dionys von Sizilien, ehrgeizig, tapfer und verschlagen, ein tüchtiger Feldherr, der seine Soldaten an sich zu fesseln verstand, rastlos tätig und völlig Herr seiner Begierden, dabei gebildet – er war ein Schüler des Gorgias653 – und leutselig im Umgang. Mit einem trefflich geschulten Korps von 6000 auserlesenen Söldnern war er jedem Gegner gewachsen. Schon trug er sich mit höheren Plänen: er wollte das alte thessalische Gesamtherzogtum wiederherstellen und damit die legitime Gewalt über alle Kräfte des reichen Landes gewinnen. Dann konnte er sich eine Flotte schaffen und zu Lande und zur See die Suprematie über ganz Hellas gewinnen. Bereits gab er zu erkennen, daß er das Programm des Nationalkriegs gegen Persien654, mit dem Athen nur gespielt hatte, ernstlich aufzunehmen gedenke, und gewann dadurch weithin die Sympathien der Nation. Alle Gegner Spartas traten mit ihm in Verbindung; mit Theben schloß er ein Bündnis. Sparta war unfähig, irgend etwas gegen diese Machtentfaltung zu tun; [382] als Iason im J. 374 die Pharsalier und den über die Stadt gebietenden Staatsmann Polydamas, der die Burg in der Gewalt hatte und die Finanzen verwaltete, vor die Alternative stellte, sich ihm freiwillig zu unterwerfen oder einen Angriff zu gewärtigen, erklärte Sparta selbst nach langer Beratung, daß es außerstande sei, eine ausreichende Macht nach Thessalien zu schicken655. Darauf schloß Polydamas mit Iason ab und wurde von ihm in seiner herrschenden Stellung über die Stadt befestigt. Alsdann wurde Iason zum Herzog (ταγός) von Thessalien erwählt. Er stellte sofort die alte Steuer- und Wehrverfassung des Landes, wie sie zu Anfang des fünften Jahrhunderts bestanden hatte (Bd. IV 1, 344., S. 573f.), wieder her. Die umwohnenden Gebirgsstämme (Perrhäber, Magneten, Achäer, Bd. III, 265.) hatten Tribut zu zahlen; das Gesamtaufgebot der Thessaler wurde auf 8000 Reiter und 20000 Hopliten festgestellt, dazu Peltasten in beliebiger Anzahl. Das war eine Macht, wie sie außer Dionys jetzt kein anderer griechischer Staat mehr aufbringen konnte656.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 5, S. 378-383.
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