Geographie

[271] Geographie. Wenige Wissensgebiete waren dem Geiste des Mittelalters so fremd und wurden bei der beschränkten Naturanschauung und dem phantastischen Wundersinn jener Zeit so karrikaturmässig verzerrt, wie das der Geographie. Von den geographischen Anschauungen und Kenntnissen der Alten rettete sich bloss ein ganz unbedeutender Teil, was etwa Plinius, Mela und Solinus[271] geschrieben hatten, die selber dem Wunder so nahe standen, in die Bildungsstätten und in die Köpfe des Mittelalters. Die Anschauung von der Kugelgestalt der Erde war wieder verloren gegangen oder war wenigstens nur noch Wenigen, wie dem Beda Venerabilis, bekannt, der astronomische Kenntnisse zur Berechnung der Ostertafeln anwandte. Die Gestalt der Welt dachte man sich scheibenförmig oder viereckig; im ersteren Falle zeichnete man eine s.g. Radcharte, nämlich einen Kreis, die Erde, und um sie herum in einem weiteren konzentrischen Kreis den Oceanus, ahd. wentilsêo, wentil meri. Der Erdkreis wird dann durch einen horizontalen Balken in zwei Hälften zerlegt, in eine östliche asiatische und in eine westliche, die unparteiisch zwischen Europa und Afrika geteilt wurde; zwischen Europa und Afrika liegt, durch einen Querbalken angedeutet, das Mare Magnum. Zuäusserst im Asiatischen Halbkreis steht Paradisus, zuoberst Gog et Magog, das sind die apokalyptischen Völker, die nach der Bibel beim Nahen des Gerichtes die Welt mit Verheerungen überziehen sollen. Im Mittelpunkt oder im Nabel der Welt steht Jerusalem verzeichnet. Vgl. Marinelli, die Erdkunde bei den Kirchenvätern, Deutsch von Neumann. Lpz. 1884.

Die Bewahrer des geographischen Wissens der Alten und zugleich die fleissigsten und unternehmendsten Länderentdecker waren im frühen Mittelalter die Araber; der Kalif Mamun, Zeitgenosse Karls d. Gr., liess die grosse Syntaxis des Ptolemäus unter dem Namen Almagest (ἡ μεγίστη mit dem arabischen Artikel al) und vielleicht auch seine geographischen Tafeln übersetzen. Nicht bloss kannten die Araber die Kugelgestalt der Erde, sie massen sogar zwei Erdbogenstücke, wobei sie nur um 1/10 zuviel von der Wirklichkeit fehlten. Die Berührung nun des christlichen Mittelalters mit der arabischen Gesittung im heiligen Lande und in Spanien, der Einbruch der Mongolen in Vorderasien, die Eröffnung eines atlantischen Seeweges von den italienischen Handelsstädten nach Flandern und die erneuerte Bekanntschaft mit den Urtexten der griechischen Schriftsteller vermittelten endlich in der zweiten Hälfte des Mittelalters auch dem christlichen Abendlande die Anfänge echter geographischer Erkenntnis. Mit den mongolischen Herrschern, die gegen Glaubensformen gleichgültig waren, entwickelte sich seit der Mitte des 13. Jahrh. von den französischen Höfen aus ein lebhafter Botschafterverkehr, da man ihrer Hilfe gegen die ägyptischen Mameluken zu bedürfen meinte. Zumal Dominikaner und Minoriten waren bei diesen Gesandtschaften, die zugleich Missionsreisen waren, thätig; darunter zeichnet sich der Bericht des von Ludwig dem Heiligen entsandten Minoriten Ruysbroek oder Rubruquis, durch seine von störenden Fabeln fast unbefleckte Naturwahrheit sehr vorteilhaft aus. Noch höheres jedoch leisteten die Gebrüder Poli aus Venedig, Nicolo und Maffio Polo und des Nicolo Sohn, Marco Polo, die 24 Jahre im Morgenlande wanderten und bis nach Peking kamen, von wo sie über Kochinchina, Sumatra, Ceylon, Malabar, Täbris und Trapezunt die Heimreise antraten.

Theoretische Kenntnisse des Altertums entnahm sodann das Abendland aus arabischen Schriftstellern; besonders ist hier zu nennen des Albertus Magnus Liber kosmographicus (um 1250) und Roger Bacos Opus majus, 1270, worin schon der Satz aufgestellt wird, es müsse nach der südlichen Hemisphäre zu noch ein grosser, trockener und unbekannter Erdteil vorhanden sein, ein Satz, über dem später Kolumbus grübelte. Eine Weltbeschreibung dagegen des [272] Gervasius von Tilbury, Kanzlers des Kaisers Otto IV., die Otia imperialia, seu liber de mirabilibus mundi, seu Solatium imperatoris seu Descriptio totius orbis per 3 dicisiones distincta überschrieben ist, strotzt von Fabeln. Auch einige Geschichtschreiber schickten ihren Werken geographische Einleitungen voraus, z.B. Otto von Freising seinen gesta Friederici I. eine Beschreibung von Frankreich, Italien und Ungarn. Durch solche und ähnliche Schriften wurde die Kugelgestalt der Erde im Abendlande wieder allgemein bekannt und angenommen und konnte man sich selbständig an astronomische Ortsbestimmungen wagen. Ein wesentlicher Fortschritt geschah durch die Verbreitung der Magnetnadel im 12. Jahrh., seit welcher Zeit auch s.g. Kompasskarten in Aufnahme kamen, d.h. mit Wind- und Kompassrosen bedeckte Karten, aus denen strahlenförmig bunte Striche nach den Haupthimmelsrichtungen auslaufen, um sich auf andern Punkten der Karte zu andern Windrosen zu vereinigen. Die merkwürdigsten Kompasskarten sind das katalanische Weltgemälde vom Jahre 1375, von einem unbekannten Steuermann verfertigt, und die Karten des Venetianers Fra Mauro. Denn überhaupt sind es die Italiener, denen Europa vornehmlich auf dem Gebiete der Geographie und Weltentdeckung den Übergang aus dem Mittelalter in die moderne Zeit verdankt. Ihre Handelsstaaten, Venedig und Genua, beherrschten nicht bloss mit ihren Schiffen die Meere, sondern mit dem in ihnen gepflanzten Geiste die Erkenntnis selber. Sie haben zuerst die Länder und Völker objektiv zu beobachten und zu beschreiben verstanden; Columbus ist ein Italiener von Geburt und Bildung. Sie haben auch zuerst die geographische Wissenschaft der Alten, namentlich Strabo und Ptolemäus mit den Karten des Agathodämon wieder für die europäische Bildung nutzbar gemacht. Unter den deutschen Humanisten, welche der geographischen Wissenschaft ihre Pflege zuwandten, wird besonders Vadian genannt, der Herausgeber des Pomponius Mela, der zuerst die amerikanischen Entdeckungen verwertete; Peter Apianus gab 1524 die erste deutsche Karte heraus; Sebastian Frank und Sebastian Münster schrieben zuerst in deutscher Sprache umfassende Weltbeschreibungen.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 271-273.
Lizenz:
Faksimiles:
271 | 272 | 273
Kategorien: