Zahlen

[1095] Zahlen. Der Gebrauch gewisser Zahlen ist, abgesehen von dem natürlichen Zahlenwert derselben, in symbolischer Bedeutung bei den meisten, wo nicht bei allen Völkern im Schwange; besondere Ausbildung hat die Zahlensymbolik u.a. bei den Hebräern, den Griechen und Römern (Pythagoras), und im Mittelalter erlangt; die christliche Symbolik des Mittelalters ist reich an solchen Anschauungen, nicht minder der Volksaberglaube, die Magie, die volksmässige Anschauung überhaupt; so beruht das Nachtwächterlied »Hört ihr Herrn und lasst euch sagen, Unsre Glock hat zehn geschlagen«, Simrock Volkslieder Nr. 379, auf der Anwendung folgender heiliger Zahlen: Zwölf Gebote, Eilf Apostel, Ein Gott, Zwei Wege des Menschen, Dreieinigkeit, Vierfaches Ackerfeld;[1095] und das Lied O Lector Lectorum oder die katholische Vesper (Simrock Nr. 335), welches anfängt: »Guter Freund, ich frage dich, Sag mir, was ist Eines?« und worin in jeder Strophe eine weitere heilige Zahl zugesetzt wird, lautet in der Schlussstrophe:


Guter Freund, ich frage dich,

Guter Freund, was fragst du mich?

Sag mir, was sind zwölfe?

Zwölf sind Apostel,

Eilf tausend Jungfrauen,

Zehn Gebote Gottes,

Neun Chöre der Engel,

Acht Seligkeiten,

Sieben Sakramente,

Sechs Krüg mit rotem Wein

Hat der Herr geschenket ein

Zu Kana in Galiläa.

Fünf Wunden Christi,

Vier Evangelisten,

Drei Patriarchen,

Zwei Tafeln Mosis,

Eins und Eins ist Gott der Herr,

Der da lebt

Und da schwebt

Im Himmel und auf Erden.

Äehnlich legte nach Vadian (deutsche Schriften III, 509, 26) ein pfaff und pfarrer zuo Tal bi Rinegg, das Kartenspiel, das er am Neujahrstag 1533 auf die Kanzel gebracht hatte, seinen Zuhörern also aus: der küng der bedüte Got den obristen; der oberbuob unser frouwen, der underbuob die 12 boten; die nüne die nün frömbden sünd; die achte die acht sälikeiten; die sibne die siben totsünd; die sechse die sechs werch der barmherzikait; die vier die vier evangelisten; die drü die halgen drifaltikait; die zwai die zwei taflen Moisi.

Eine Zusammenstellung kirchlich-symbolischer Zahlen ist uns unbekannt; vgl. indes Leyrer in Herzogs Real-Encyklopädie, Art. Zahlen bei den Hebräern; dagegen hat J. Grimm in den Rechtsaltertümern, Kap. 5, Zahlenverhältnisse aus dem Gebiete des deutschen Rechtes gesammelt, von welchen hier unter Beiziehung des Grimm'schen und des Schmeller'schen Wörterbuches Einiges angemerkt werden soll. Nach Grimms Beobachtung zerfallen im symbolischen Gebrauche des Rechtes schon die einzelnen Zahlen in zwei ungleiche Theile, dergestalt, dass einer geraden Basis eine ungerade Zugabe, einer ungeraden eine gerade beigefügt zu werden pflegt; im ganzen werden daher meist ungerade Zahlen gebraucht und gefordert, namentlich drei, sieben und neun.

1) Dreizahl. Drei bezeichnet das abgeschlossene, vollendete, vollständige; wenn bei den heidnischen Deutschen das feierliche Werfen der Lose stattfand, um eine göttliche Entscheidung zu erlangen, so wurden drei von den hingeschütteten Losstäben herausgenommen oder das Losen ward an drei verschiedenen Tagen wiederholt; in Volksliedern finden sich drei Rosen, drei Reiter zu Pferd, drei Häslein, drei Wolken am Himmel, drei Gäns im Haberstroh, drei Bursche, die über den Rhein ziehen und vieles andre. Ihrer ethnogonischen Sage zufolge stammten die drei Stämme, in welche das Gesamtvolk der Germanen zerfiel, die Ingävonen, Hermionen und Istävonen, von den drei Söhnen des Mannus. Die Zahl der Stände ist drei: Adel, Freie und Knechte. Am Gerichtsplatz stehen drei Eichen, dreimal wird etwas bekannt gemacht, wird aufgefordert, angekündigt, gewarnt, geantwortet, ein Zeichen gegeben; drei ist die Zahl der ehhaften Nöte; von drei Strafen wird häufig dem Verbrecher die Wahl gegeben eine auszulesen; einen Gast behält man drei Tage.

2) Vierzahl ist meist bloss auf den Einfluss der vier Himmelsgegenden, auf die Landeseinteilung, Wege und Gerichtsplätze bezogen; häufig war eine Landeinteilung in vier[1096] Stücke, mit vier Ecken, Wänden und Wegen; auf dem quadrivium, der Wegscheide, wurden verschiedene Rechtsfeierlichkeiten vorgenommen; ein Mann wohnt binnen seinen vier Pfählen; über dem Haupte des zum Tode Verurteilten werden vier gebrochene Stäbe nach den vier Seiten hin geworfen. Vier Pfennige sind eine häufige Abgabe. Vierer oder Viermeister sind eine dörfliche und in Städten eine zünftige Behörde, die man manchmal Führer geschrieben findet.

3) Fünfzahl findet im alten Recht selten Verwendung; dagegen gründet Otfried die Einteilung seiner Evangelienharmonie in fünf Bücher auf die fünf Sinne; vielleicht an die Zahl der Sinne oder der Finger denkend verlangt Gottfried von Strassburg fünf Dinge von der Minne: Reinheit, Keuschheit, Milde, Demut, Geduld. Ein bayerischer Spottausdruck Bauernfünfer hat nach Schmeller vielleicht Bezug auf die ältern Schrannengerichte, bei welchen wenigstens »fünf erber man« oder »fünf bider man« als geschworne Rechtsprecher sassen, die auf dem Lande aus Bauern genommen wurden.

4) Sechszahl ist sehr selten.

5) Siebenzahl ist Zahl der Schöffen, der Zeugen (daher besiebnen, übersiebnen). Vor Gericht erscheint jeder Freie, der an Grund und Boden sieben Schuh hinter sich und vor sich besitzt; den Sarg nennen die Dichter das Haus von sieben Füssen. Am Gerichtsplatz stehen sieben Eichen, daher der Ortsname. Häufig sind sieben Strassen, z.B. in Hennegau sieben Heerstrassen des Königs, vier mit rotem, drei mit schwarzem Steine gepflastert; in Friesland, das noch im 10. Jahrhundert in sieben Landschaften zerfiel, vier Wasser- und drei Landstrassen; sieben Pfennige, vier dem himmlischen, drei dem irdischen Könige, sind eine Abgabe; sieben Heerschilde zählt der Sachsenspiegel. Es giebt sieben Frieden, für Haus, Weg, Ding, Kirche, Wagen, Pflug und Teich. Sieben Jahre und sieben Tage sind häufig fristbestimmend, z.B. für die Grenzbegehung; ein sibenaere ist einer von sieben aufgestellten Sachverständigen bei Besichtigung von Bau-, Flur- und Grenzsachen; der Siebnergang ist die jährliche Besichtigung sämtlicher Marken einer Flur durch die Siebner. Der Siebent, der siebente, ist der siebente Tag nach Beisetzung einer verstorbenen Person, an welchem ehemals der zweite Gottesdienst für sie gehalten zu werden pflegte.

6) Achtzahl ist wiederum im Recht ungebräuchlich; acht Tage sind ein alter Ausdruck für die Woche, indem man von der neuen Woche den ersten Tag mitzählt.

7) Neunzahl; neun Kinder können, der Annahme des friesischen Gesetzes nach, erzeugt werden; sonst gibt es neun Urteiler, neun Pflugscharen beim Gottesurteil (siehe diesen Art. Nr. 3); die eine leibeigne Frau haben, sollen neun Schritte von der Gerichtshütte stehen bleiben; neun Jahre, neun Tage, neun Nächte.

8) Zehnzahl scheint im Recht überall aus 9 + 1 zu erklären; der Zehnte bedeutet die Entrichtung des Stückes, das auf das neunte folgt; ebenso sind Fristen, zehn Nächte, zehn Jahre Verbannung zu er klären.

9) Eilf, zwölf und dreizehn bedeuten oft gleichviel, 11 die Verminderung, 13 die Vermehrung der 12 um eins; bei 11 Schöffen ist der Richter der zwölfte, bei 12 Schöffen der dreizehnte: oft erscheint ein Herr mit eilf oder zwölf Dienstmannen; im letztern Fall ist er selbst mitgezählt. Elfer sind auch eine städtische Behörde.

10) Vierzehn ist die Verdopplung von sieben, Fünfzehn der Zusatz von einem zu vierzehn, achtzehn,[1097] Verdoppelung von neun, bezeichnet z.B. die Jahre der Mündigkeit.

11) Unter den Zwanzigern ist 21, 24 und 27 in Gebrauch; 21 und 27 Verdreifachung von 7 und 9; 24 Verdoppelung von 12. Ein Hausgenosse darf 21 Jahr abwesend sein, ohne sein Recht einzubüssen.

12) Dreissig Jahre bestimmen den Ablauf der Verjährung, eine aus römischem Recht hergeleitete Frist.


die wîsen jehent und ist ouch wâr,

daz kein unmâze nie gewerte drîzec jâr, oder:

kein unfuoc weret drîzec jâr.


Der Dreissigste ist der dreissigste Tag nach der Beerdigung eines Verstorbenen, an welchem ehemals der letzte Seelengottesdienst für denselben gehalten zu werden pflegte, jetzt überhaupt der letzte Seelengottesdienst.

13) Vierzig Tage oder Nächte ist eine alte Fristbestimmung, die besonders beim Heerbann galt, doch auch in den Gedichten des Mittelalters vorkommt.

14) Zweiundsiebenzig Eideshelfer, d.h. 8 × 9 oder 6 × 12 kommen in den alten Volksrechten vor; sonst trifft man Strafe um 72 Pfennige; 72 Dienstleute, 72 Länder, 72 Sprächen.

15) Zugabe-Zahlen. Entspringen schon einzelne Zahlen für den Rechtsgebrauch aus blosser Zugabe, nämlich vier aus 3 + 1, acht aus 7 + 1, zehn aus 9 + 1, dreizehn aus 12 + 1, fünfzehn aus 14 + 1, dreissig aus 27 + 3, vierzig aus 39 + 1; seltener aus Verminderung, wie sechs aus 7 – 1, eilf aus 12 – 1, sechsundzwanzig aus 27 – 1, so offenbart sich dieses Prinzip in erweitertem Masse vorzüglich bei Fristbestimmungen. Der Verstrich einer Frist ist nämlich erst dann für voll zu achten, wenn in die ausser ihr liegende Zeit eingetreten wird, weshalb noch ein Stück dieser neuen Zeit mit dazu geschlagen zu werden pflegt. Die ältere Zählung ist die, dass einer gewissen Zahl von Nächten, z.B. 7 oder 14, ein Tag zugegeben wird, was sich bis in sehr späte Zeit erhält; spätere Zählung nennt bloss Tage und nimmt den Zugab-Tag gleich in die ganze Zahl mit auf; also statt 7 + 1 : 8; statt 14 + 1 : 15 Tage. Längere Fristen wurden aus Einzelnen, zusammengesetzt, wobei sich die Zugaben nach den Einzelfristen richteten; so bestand eine sechswöchentliche Frist aus 45 Tagen, d.h. drei vierzehnnächtige Fristen (42 Tage) mit je einem Zugab-Tag: 42 + 3 = 45. Die Fristen und Formeln, die das alte Recht kennt, sind folgende:

a) dreinächtige und siebennächtige ohne Zugab-Tag nach den ältesten Gesetzen;

b) einen dag und vierzehn nacht;

c) vierwöchentliche oder monatliche werden meist durch 30 Tage ausgedrückt: vier wochen und zwei tage;

d) sechswöchentliche Frist ist sehr verbreitet und beruht auf dreimaliger Wiederholung der vierzehntägigen Frist mit drei Zugaben: drei tag und sechs wochen, sechs wochen und dri tag, drei vierzehn tage und noch drei tage;

e) die vorige Frist verdreifacht = 135 Tage: dreimal sechs wochen und neun tage;

f) Jahresfrist hat die Formel: jâr und tag, und ist namentlich Bestimmung für verjährenden Besitz und für die Dauer des Aufenthaltes. Diese Frist galt nun aber nicht soviel als ein Jahr und ein voller Tag dazu, sondern sie wurde seit Jahrhunderten bei den Gerichten nach der sechswöchentlichen Frist (oben d) gerechnet und war soviel als ein Jahr sechs Wochen und drei Tage;

g) zehn Jahr und ein Tag kommt in bayerischen Urkunden oft vor und wird im alemannischen Landrecht[1098] wieder gedeutet als zehen jâr, sechs wochen und drîe tage;

h) achtzehn Jahr und ein Tag;

i) dreissig Jahr und ein Jahr, eine uralte Bestimmung, die schon im 7. Jahrhundert bezeugt ist; später wird daraus dreissig Jahr und ein Tag, oder einunddreissig Jahre und ein Tag;

k) fünfzig Jahr und ein Tag bestimmt den Begriff eines Hagestolzen;

l) hundert Jahr und ein Tag ist Formel für ewige Verbannung.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 1095-1099.
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