Darwinismus

[132] Darwinismus ist die von Ch. Darwin (1809-1882) aufgestellte Entwicklungslehre, nach der die Arten der Organismen nicht fertig auf einmal geschaffen wurden, sondern auseinander und nacheinander allmählich auf Grund der wechselnden Existenzbedingungen und der Anpassungsfähigkeit der Organismen entstanden sind. Als die bestimmenden Einflüsse bei der Entstehung der Arten betrachtet Darwin die Vererbung (s. d.), die Variabilität der Individuen, die durch den Kampf ums Dasein (struggle for life) bewirkte natürliche Zuchtwahl oder Auslese (Selection), die Korrelation der Organe und die Folgen des Gebrauchs oder Nichtgebrauchs der Glieder. (Ch. Darwin, On the origin of species by means of natural selection, London 1859.) Es ist das Verdienst Darwins, das Dogma von der Konstanz der Arten umgestoßen und eine Betrachtungsweise in der Zoologie und Botanik zur Geltung gebracht zu haben, die das Seiende nicht als starre Form hinnimmt, sondern[132] sein Wesen aus dem Werden begreifen lehrt. Der Grundgedanke einer allmählichen Vervollkommnung der Organismen ist wissenschaftlich überaus fruchtbar und widerspricht auch nicht dem Glauben. Die Theorie Darwins bedroht nicht, wie anfangs angenommen wurde, den Theismus. Denn die schöpferische Tätigkeit Gottes erscheint, wie schon Newton im Kampf gegen den Mechanismus angedeutet hat, ebenso groß, ja noch größer, wenn die Natur entwicklungsfähig ist, wenn also, wie es der Darwinismus später gelehrt hat, fortwährend neue Stufen der Entwicklung erscheinen, als wenn die Natur konstant wäre, also die Arten am Anfang fest ins Dasein getreten wären. Und selbst wenn die Ursache einer Erscheinung noch so weit, bis in die Elemente aller Dinge zurückgeschoben wird, so bleiben wir doch damit nur innerhalb der endlichen Erscheinungswelt stehen. Mag die Entwicklung der Individuen von innen (wie nach Wallaces Evolutionstheorie) oder von außen (wie nach Darwins Selektionstheorie) kommen, die Frage einer Weltschöpfung wird dadurch nicht berührt. Die Schöpfung gewinnt nur an Würde und Bedeutung, sagt O. Peschel (1826-1875), wenn sie die Kraft der Erneuerung und Entwicklung in sich selbst trägt. Der unbefangene Blick wird leicht erkennen, daß die Züchtungslehre die Teleologie nicht einfach abweist, sondern ihr vielmehr den Boden bereitet. Doch darf die Darwinsche Theorie nicht in das Gebiet der Wertunterschiede im Dasein übergreifen. Das Gebiet des Geistes, besonders das ethische, läßt sich nicht in bloßen Naturmechanismus auflösen. Denn die geistigen und ethischen Tatsachen sind nicht nur verschieden von den materiellen, sondern auch bedeutungsvoller als diese. Das Weltall, den Menschen mit einbegriffen, kann nicht in eine Mechanik der Atome verwandelt werden. Die Darwinsche Theorie muß sich auf das naturwissenschaftliche Gebiet beschränken und die Ethik als ein selbständiges, außerhalb ihres Forschungskreises liegendes Gebiet anerkennen. – Recht leer und unbedeutend ist übrigens die von einem Schüler Haeckels, des hervorragendsten Vertreters des Darwinismus in Deutschland, Joh. Unbehaun, versuchte rein philosophische Selektionstheorie (Jena 1896). Vgl. G. P. Weygoldt, Darwinismus, Religion, Sittlichkeit. Leyden 1878. R. Schmidt, die Darwinsche Theorie. Leipzig 1876. Vgl. Evolution, Mutation.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 132-133.
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