Antizipation

[590] Antizipation (lat., »Vorausergreifung, Vorausnahme«), ein in verschiedenen Beziehungen angewendeter Ausdruck. In der Logik bezeichnet man mit A. die vorläufige Anerkennung eines Satzes als wahr in Erwartung einer spätern Begründung. In der Rhetorik ist A. soviel wie Prolepsis. – In der Rechtswissenschast bedeutet A. eine Handlung, die früher, als der ordnungsmäßige, gesetzlich vorgeschriebene Rechtsgang es erlaubt, vorgenommen wird. So ist im Handel A. (antizipierte Zahlung, Zahlung anticipando) eine vor dem verabredeten, gebräuchlichen oder gesetzlichen Termin geleistete Zahlung. Dieselbe begründet einen Anspruch auf Zinsvergütung, die durch Abzug eines Zwischenzinses (Interusurium, Rabattabzug, Diskont) bewirkt wird. – Im Finanzwesen bezeichnet A. die Vorausentnahme erst später fälliger Einnahmen, sei es, daß man Steuern, die erst später fällig werden, im voraus bezieht, sei es, daß die zukünftigen Einnahmen einstweilen durch ein Anlehen verfügbar gemacht werden. Früher bediente man sich zu diesem Zweck eines mit Hilfe der später eingehenden Einnahmen wieder einzulösenden Papiergeldes. So wurde 1812 die preußische Vermögens- und Einkommensteuer durch gestempelte Tresorscheine, welche die Staatskassen für bar annahmen, antizipiert. Die bei der Steuerzahlung eingehenden Scheine sollten vernichtet, die auf diese Weise nicht eingegangenen aber aus dem Steuerertrag eingelöst und vernichtet werden. Das heute angewendete Antizipationsmittel ist der Schatzschein (s. d.). – Im Patentwesen spricht man von einer A., wenn eine patentierte oder zur Patentierung angemeldete Erfindung bereits vor der Anmeldung bekannt gewesen ist. – In der Medizin bedeutet A. das verfrühte Eintreten von typischen Krankheits-, namentlich Fieberanfällen sowie überhaupt ein vorzeitiger, dem Lebensalter des Patienten noch nicht angemessener Vorgang. – In der Musik versteht man unter A. das Eintreten eines oder mehrerer dem nächstfolgenden Akkord angehörender Töne auf einen demselben vorausgehenden leichten Zeitteil (s. nebenstehendes Beispiel).

Tabelle
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Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1905, S. 590.
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