Dialekt

[862] Dialekt (griech., Mundart) heißt erstens eine Sprache insofern. als neben ihr andre, mit ihr enger verwandte Sprachen bestehen, mit denen zusammen sie ein einheitliches Ganzes bildet. Gewöhnlich wird dieses Ganze kollektiv die Sprache (z. B. »die deutsche,[862] die griechische Sprache«) genannt, der gegenüber dann der betreffende Teil als Abart erscheint. Nach dieser Richtung hin sind die Begriffe Sprache und D. durchaus schwankend und vielfach miteinander vertauschbar, da auch das Ganze, eine Dialektgruppe, wieder andern verwandten Sprachen gegenüber als D. erscheinen kann. Daß der Ausdruck D. da nicht mehr gebraucht werden dürfe, wo die gegenseitige Verständlichung in der Sprache aufhöre, ist eine willkürliche Bestimmung, der der tatsächliche Sprachgebrauch, namentlich der der Wissenschaft, nicht entspricht. Zweitens spricht man von den Dialekten im Gegensatze zu der über ihnen stehenden Hochsprache oder Schrift- und Literatursprache. Diese ist stets aus einem D. oder auch durch Mischung aus mehreren oder allen zugleich hervorgegangen. Zwischen D. und Hochsprache gibt es aber überall mannigfache Übergangsstufen, und gewöhnlich stellt auch ein und derselbe Mensch aus der Klasse der Gebildeten mehrere dieser Mittelstufen zugleich dar, indem seine Alltagssprache eine andre ist als die, die erz. B. als Amtsperson, als öffentlicher Redner u. dgl. gebraucht. Es besteht gewöhnlich eine Art von mehr oder weniger bewußter Rivalität zwischen D. und Hochsprache. Auch kommt es vor, daß, wenn die Pflege der letztern vernachlässigt wird, oder wenn sie sich künstlich gegen die Dialekte absperrt, ein D. zum Rang einer Hochsprache aufsteigt und die bis dahin gültige Hochsprache verdrängt. So haben z. B. die lateinischen Volksdialekte, welche die Fortsetzung der anfangs nur in Rom gesprochenen Volksmundart waren, die sogen. romanischen Mundarten, die lateinische Hochsprache im Mittelalter überwunden und sind selber Schrift- und Literatursprachen geworden. Die Hochsprache muß, um sich auf die Dauer erhalten zu können, mit den Dialekten in lebendiger Fühlung bleiben und sich immer aus ihnen als dem ewig frischen Quell durch Herübernahme treffender Bezeichnungen, angemessener Wortflexionen u. dgl., erneuern. Aus diesen Gründen ist es ein Zeichen oberflächlicher Auffassung, die Dialekte als bloße »Patois« für der Beachtung unwert zu halten. Sie empfehlen sich vielmehr der emsigen Durchforschung des Gelehrten (J. Grimm, A. Schmeller, K. Weinhold) wie auch der künstlerischen Handhabung von seiten des Dichters (R. Burns, Jasmin, Hebel, F. Reuter, die altgriechischen Dialektdichter, wie Sappho, Anakreon etc.). Über die deutschen Dialektes. Deutsche Sprache, S. 741.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1906, S. 862-863.
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