Gnade

[61] Gnade (lat. Gratia), im allgemeinen jedes Wohlwollen des Höhern gegen den Niedern, insbes. die Machtvollkommenheit des Souveräns, insofern sie Vergünstigungen zuteil werden lassen kann, auf die kein Rechtsanspruch besteht. Namentlich im Strafrecht ist das Recht der G. von großer Wichtigkeit (s. Begnadigung). – Auf Gott übertragen, ist G. nach der Kirchenlehre diejenige Güte Gottes, nach der er den Menschen auch noch als Sünder liebt und ihm den Rückweg zur verscherzten Seligkeit ermöglicht; daher ist die Rede von G. Gottes in Christus als der alles zusammenfassenden Hauptwohltat Gottes. Hierauf gründet sich der Sprachgebrauch der Kirchenlehre, wonach im engern Sinne vornehmlich die zuvorkommende und erneuernde Wirksamkeit des Heiligen Geistes auf das innere Leben der Menschen Gnadenwirkung, das von Christus gegründete und durch seinen Geist regierte Reich Gnadenreich, die Mittel, durch die dieser Geist den Menschen das Heil nahebringt und aneignet, Gnadenmittel (s. d.), der Zustand des gerechtfertigten Christen Gnadenstand, die in letzterm zu genießenden geistlichen Güter Gnadengaben, die Lebenszeit des Christen, sofern ihm die Gnadenmittel zu Gebote stehen, Gnadenzeit und die im Jenseits verheißene Vergeltung Gnadenlohn genannt werden. In der Kirche machte sich, solange die Lehre hauptsächlich durch griechische Kirchenlehrer Ausbildung fand, eine Richtung geltend, die das Heil des Menschen vornehmlich auf dessen frese Entscheidung für das Gute gründete, während die G. mehr auf die Bedeutung einer göttlichen Beihilfe reduziert wurde. Strengere Begriffe von der Wirksamkeit der G. brachte in der lateinischen Kirche Augustin zur Geltung, indem er infolge seiner Lehre von der Erbsünde (s. d.) zu der Behauptung fortschritt, daß Gottes G. einen Teil der an sich verlornen und verdammten Menschen ohne alle Rücksicht auf deren eignes Zutun durch Christus rette. Die entgegenstehende Theorie wurde zwar von der Kirche als Pelagianismus verworfen; gleichwohl aber behauptete man selbst da, wo sich Augustins Ansehen fast unbedingte Geltung verschaffte, eine gewisse Allgemeinheit der G., und demgemäß wurde auf dem Konzil zu Arausio (529) trotz der Anerkennung unbedingter Notwendigkeit der G. eine durch die Taufe gewirkte Wiederherstellung der Willensfreiheit angenommen. Auch die Scholastiker haben ein Interesse an der Freiheit des Willens und der Verdienstlichkeit der frommen Werke, räumen aber je nach dem Maß ihrer Neigung zum Augustinismus dabei der G. einen größern oder geringern Wirkungskreis ein. So entstand ein Lehrbegriff, der den Prozeß der Heilsaneignung in der Form einer Abwechselung von Wirkungen der G., bei der immer die Initiative liegt (gratia praeveniens), und des freien Willens, endlich aber eines Zusammenwirkens beider (gratia cooperans) beschreibt (s. Meritum), und an diesen scholastischen Lehrbegriff schließt sich wesentlich auch das Konzil von Trident an. Die Reformatoren dagegen wendeten sich in ihrem Interesse, den Menschen von der priesterlichen Vermittelung loszulösen und lediglich auf Gott zu stellen, der strengen Gnadenlehre Augustins zu und mußten daher eine Mitwirkung des natürlichen freien Willens zurückweisen. Am folgerichtigsten verkündigte Calvin eine G., die nicht an alle gelange (particularis), aber unwiderstehlich (irresistibilis) und nicht wieder zu verlieren (inamissibilis) sei. In die lutherische Dogmatik dagegen ging der übrigens auch im Sinne der Ausschließlichkeit der Wirkung der G. gemeinte Vermittelungsversuch der Konkordienformel über, wonach die G. zurückgewiesen und verloren werden kann. Alles religiöse und wahrhaft sittliche Leben aber wurde aus übernatürlichen Gnadenwirkungen hergeleitet und in die Tragweite des natürlichen freien Willens nur die Erlangung einer bürgerlichen Gerechtigkeit (justitia civilis) gestellt. Vgl. Prädestination.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 8. Leipzig 1907, S. 61.
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