4. Kapitel.

Der Wechsel des Eigentums.

[122] Ein Motiv, das sich bei allen Völkern findet, ohne daß immer gegenseitige Beeinflussung anzunehmen wäre, ist der Wechsel des Eigentums durch Tauschen oder Borgen. Wie der Handelsverkehr primitiver Völker auf Tausch beruht, so treibens auch die Tiere untereinander, wenn sie fremdes Gut erlangen wollen, insbesondere Körperteile, die ihnen fehlen. Und wie im Leben der Völker der Betrug eine unvermeidliche Begleiterscheinung des Tauschens ist, so spielt er auch im Leben der Tiere nicht selten eine Rolle. Häufiger noch ist vom Borgen die Rede, und auch hier geht es nicht ohne Betrug ab. Der Entleihende gibt dem Verleihenden die geborgte Sache nicht wieder, – ebenfalls ganz den menschlichen Verhältnissen entsprechend. Dergleichen kommt überall vor und kann überall im Tiergleichnis nachgebildet werden. Auch die Anregung dazu ist überall, wo der Mensch in und mit der Natur lebt, dieselbe und wirkt mit derselben Kraft und demselben Erfolge. Dem aufmerksamen Beobachter muß die merkwürdige Tatsache auffallen, daß zwei Tiere, die ihrem Wesen nach gleichberechtigt sein müßten, in der äußeren Erscheinung voneinander abstechen wie arm und reich. Das eine ist unansehnlich und dürftig, als wäre es irgendwie und wann zu kurz gekommen; das andere ist zu reichlich ausgestattet, als hätte es sich auf irgendeine Weise zu viel verschafft. Was liegt näher als der Gedanke, daß einer den andern übervorteilt und ihm das Seine weggenommen habe? Und gar die melancholischen Rufe solcher armseligen Tiere – fordern sie nicht geradezu auf, sie als die Klagen ewig Betrogener zu deuten? So kommt es denn, daß sich der Eigentumswechsel in einer beträchtlichen Anzahl von Märchen, namentlich in Tausch- und Borggeschichten, findet, die untereinander ähnlich sind, ohne sonst irgendwie zusammenzuhängen. Natürlich spielt die Stoffentlehnung auch hier mit herein. Aber wo sie nicht nachweislich oder unwahrscheinlich ist, wird man gut tun, auf selbständige Erfindung und zufällige, durch die Gleichheit des Motivs gegebene Übereinstimmung zu schließen.

Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 122-123.
Lizenz:
Kategorien: