Sechste Ordnung: Kaukerfe oder Geradflügler [505] (Gymnognatha, Orthoptera)

Alle bisher betrachteten Kerfe leben, wie man sich erinnert, erst als Larve, dann als davon verschiedene ruhende Puppe, bis zuletzt Käfer und Schmetterling, die Imme und Fliege, zu Stande kommt; jedes aber läßt sich ohne weiteres als das erkennen, was es eben ist, weil ihm die Merkmale seiner Ordnung kurz und bündig an der Stirn geschrieben stehen. Bei den Netzflüglern waren diese schon weniger scharf ausgeprägt, man fand sie nicht entschieden ausgesprochen in der Flügelbildung, nicht deutlich erkennbar in dem Verhalten des ersten Brustringes zu seinen beiden Nachbarn, sondern nur in den beißenden Mundtheilen und in der vollkommenen Verwandlung. Das große Heer der noch übrigen Kerfe entsteht durch unvollkommene, bisweilen ohne jede Verwandlung; es hat entweder beißende und zwar oft sehr kräftig beißende, oder schnabelartige, zum Saugen eingerichtete Mundtheile, und hierin liegen die wesentlichsten Unterscheidungsmerkmale der beiden noch übrigen Ordnungen. In jeder derselben finden sich neben den geflügelten auch flügellose Arten, unter ersteren solche, bei denen die Vorderflügel mehr hornige Decken darstellen, neben anderen, bei denen alle vier Flügel aus dünner Haut mit oder ohne Maschennetz bestehen. Nach der hier festgehaltenen Auffassungsweise gehören alle Insekten, welche unvollkommene oder gar keine Verwandlung bestehen und beißende Mundtheile aufzuweisen haben, zu den Kaukerfen.

Außer diesen zwei allen Orthopteren gemeinsamen Merkmalen zeigen sie in der Bildung der Unterlippe wie in der Gliederung des Hinterleibes noch zwei andere Uebereinstimmungen, die nur mit wenigen Worten angedeutet werden können. Dadurch nämlich, daß bei allen echten Linné'schen Geradflüglern die vier Laden der Unterkiefer, zum Theil sogar ihre Stämme, getrennt auftreten, bei den anderen (hier hinzugenommenen) durch einen Schlitz in der Mitte des Zungentheiles zwei Seitenhälften wenigstens angedeutet werden, spricht sich in dieser Ordnung das Streben aus, zwei Unterkieferpaare herzustellen, wie sie bei den Krebsen zur Vollendung gelangt sind. Eine weitere der Ordnung zukommende Eigenthümlichkeit bildet das Auftreten von elf, allerdings nicht überall äußerlich sichtbaren Hinterleibsringen und die damit im Zusammenhange stehende Vertheilung der Geschlechts- und Afteröffnung auf zwei verschiedene, bezüglich den drittletzten und letzten derselben.

Die Larve hat bekanntlich keine Flügel, sondern bekommt nach mehrmaligen Häutungen erst die Ansätze dazu, sobald der vollkommene Kerf geflügelt ist; daher unterscheidet sie sich auch ohne große Mühe von diesem. Bleibt letzterer aber flügellos, was nicht selten vorkommt, so wird die Unterscheidung beider schwieriger, denn dann weicht die Larve nur durch die geringere Anzahl der Fühlerglieder und Augenfelder, zweier schwierig festzustellender Merkmale, vom vollkommenen [505] Insekte ab. Manchmal hat dieses nur stummelhafte Flügel, deren vordere aber auf den hinteren liegen, während bei der Larve die umgekehrte Lage stattfindet.

Die Kaukerfe, vorwiegend von gestrecktem Körperbaue, liefern im Verhältnisse zu ihrer Gesammtzahl, welche man auf fünftausend schätzt, viele in Hinsicht auf Form, Färbung und Größe ansehnliche Insekten und breiten ihre Arten über die ganze Erde aus, wenn auch gewisse Familien vorherrschend den wärmeren Erdgürteln angehören. Manche fallen durch die ungeheuere Massenvereinigung einer und derselben Art auf und werden, sofern sie Pflanzenkost zu sich nehmen, der menschlichen Wirtschaft im höchsten Grade verderblich, da sie in beiden Ständen rücksichtlich der Gefräßigkeit keinem anderen Kerfe etwas nachgeben. Diesen Pflanzenfressern gegenüber durchschwärmen andere als unersättliche Räuber die Lüfte und nützen durch Vertilgung gar manchen Ungeziefers.

Versteinerte Ueberreste kommen bereits im Kohlengebirge vor, wo sie alle anderen überwiegen; weiter hat man sie im lithographischen Schiefer, besonders zahlreich aber im Tertiärgebirge und im Bernsteine aufgefunden.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 505-506.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Geschichte der Abderiten

Geschichte der Abderiten

Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«

270 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon