Corinthische Säule

[232] Corinthische Säule.

Die zierlichste Art Säulen, die in der Baukunst gebraucht werden. Ihr Hauptcharakter ist ein hohes Capiteel, mit drey übereinander stehenden Reyhen Acanthus Blättern, und verschiedenen zwischen denselben heraus wachsenden Stengeln geziert, die sich oben an dem Dekel in Schnekenformen zusammenwikeln. Solcher Schneken sind auf jeder Eke des Dekels zwey, und zwey auf jeder Seite zwischen den Eken, und also in allem acht Paar. Anstatt der Acanthus Blätter brauchen einige Baumeister bisweilen auch andre, welche aber dem Capiteel ein etwas schweereres Ansehen geben. Allein die dreyfache Reyhe der Blätter und die acht Paar Schneken sind allemal das gewisseste Kennzeichen dieser Säule.

In Ansehung ihrer Verhältniß gehört sie zu den höhern Säulen. Ihre ganze Höhe ist ohngefehr 20 Model, der Fuß hat einen, das Capiteel zwey und einen drittheil, das übrige ist für den Stam. Man giebt dieser Säule entweder einen attischen Fuß, oder einen eigenen der aus vielen Gliedern besteht, deren Ordnung und Verhältnisse aber nicht ganz bestimmt sind. Der Stam wird ofte mit Canelüren ausgehölt. [232] Weil diese Säule die zierlichste und feinste von allen ist, so leidet sie auch Verzierungen der kleinern Glieder, welche von den römischen Baumeistern sehr häufig angebracht worden. Doch scheint dieses dem grossen Geschmak zuwider.

Den Namen hat sie von der Stadt Corinthus, wo sie, nach der bekannten Erzählung des Vitruvius, von dem Bildhauer Callimachus erfunden worden; wenn anders die Geschichte ihrer Erfindung nicht ein blosses griechisches Mährchen ist. Der Jesuit Villalpandus1 hat beweisen wollen, daß die Säulen am Tempel zu Jerusalem, sowol in den Verhältnissen, als in den Hauptverzierungen wenig von der, lange nachher erst von den Griechen gebrauchten, corinthischen Säule unterschieden gewesen. Diesemnach könnte diese Säule wol eine phönizische Erfindung seyn. Vielleicht hat Callimachus blos die Art der Blätter verändert, und Acanthusblätter anstatt der Palmen oder andrer Blätter eingeführt. An einer alten ägyptischen Säule, die Pokok2 abgezeichnet hat, ist der erste Ursprung des corinthischen Capiteels nicht undeutlich zu sehen, in dem schon Laubwerk, als wenn es über den Rinken heraus gewachsen, längst dem Knauff in die Höhe steiget, unter dem Dekel sich sanft umbeuget, und etwas, das den corinthischen Schneken gleichet, vorstellt.

Haben etwa die im Orient so sehr gemeinen Palmenbäume, die im ersten Anfang der Baukunst statt der Säulen gebraucht worden, zu diesem Laubwerk an dem Capiteel Anlaß gegeben? Es ist sonst schweer zu sagen, warum eben dieser Theil der Säule, eine solche Zierrath bekommen habe. Im übrigen giebt diese Säule ein schönes Beyspiel von der geschikten Abwechslung, und der, dem Geschmak so nöthigen, Mannigfaltigkeit der Theile. Das Gerade und Runde, das Glatte und Gebogene, das Einfache und Gezierte wechseln darin auf die angenehmste Weise mit einander ab.

1De apparatu templi Salomonis.
2Beschreibung des Morgenlands.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 232-233.
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