Einklang

[305] Einklang. (Musik)

Man sagt von Tönen, daß sie im Einklang sind, wenn sie gleich hoch sind. Da die Höhe der Töne von der Anzahl der Schläge oder Vibrationen der klingenden Körper herkommt,1 so sind die Töne zweyer klingenden Körper im Einklang, wenn die Geschwindigkeit der Vibrationen in beyden gleich ist, welches bey zwey gleichen und gleich stark gespannten Sayten allemal statt hat.

Im Einklang ist also die vollkommenste Harmonie, weil beyde Töne in einen zusammenfliessen, zumal wenn beyde von einerley Instrument, oder klingenden Körpern herkommen. Einige rechnen den Einklang unter die Consonanzen; andre aber verwerfen dieses, indem sie sagen, daß das Wort Consonanz nur von Intervallen gebraucht werde, oder von Tönen, die in Ansehung der Höhe verschieden sind. Der Streit hat im Grund gar nichts auf sich. Jederman gesteht, daß zwey im Einklang gestimmte Sayten vollkommen consoniren, in so fern ist der Einklang die vollkommenste Consonanz; indessen machen zwey gleich hohe Töne kein Intervall aus. Man nennt aber auch, wiewol nicht gar schiklich, zwey nicht gleich hohe Töne, bisweilen einen erhöhten Einklang oder Unisonus, und sieht dann einen solchen Unisonus als ein Intervall an, dem man den Namen der Prime giebt, wie in der Tabelle der Dissonanzen zu sehen ist.2

Wenn über oder unter einem leeren Notensystem, für eine Stimme oder für ein Instrument die Worte im Einklang, oder italiänisch all' Unisono stehen, so bedeutet dieses, daß diese Stimme eben die Töne habe, als die über ihr stehende Stimme.

Es ist höchst wahrscheinlich, daß in der alten Musik, wo viel Stimmen zugleich vorgekommen, alle im Einklang, oder höchstens einige gegen die andern, in Octaven fortgeschritten sind, daß folglich jeder Gesang und jedes Tonstük blos einstimmig gewesen. Wenn ein solches Stük von viel Menschen von verschiedenem Alter und von verschiedenen Stimmen gesungen wird, so ist es ganz natürlich, daß die höchsten oder die tiefsten Stimmen, anstatt der vorgeschriebenen Töne, deren Octave darüber oder darunter nehmen. Ferner scheinet es sehr natürlich, daß einige Stimmen, wenn gleich durchgehends der Einklang vorgeschrieben ist, bisweilen an dessen Stelle Terzen oder Quinten nehmen werden, weil die Kehle, so wie die Flöte, durch eine Kleinigkeit von dem Einklang auf eines dieser Intervalle kommt. Dieses scheinet der Ursprung des vielstimmigen Gesanges und unsrer heutigen Harmonie zu seyn.

Ohne Zweifel hat etwa ein Tonsetzer, dem die verschiedenen von ohngefehr sich ereignenden Abweichungen vom Einklang mögen gefallen haben, hernach versucht, anstatt einer Melodie zwey oder drey verschiedene in consonirenden Intervallen zu setzen, und dadurch die Gelegenheit zum harmonischen vielstimmigen Satz gegeben.3

Jener einfache Gesang, der mit sehr viel Stimmen im Einklang geht, wird von dem berühmten Roußeau für den natürlichsten und vollkommensten Gesang gehalten, und er geht so weit, daß er den vielstimmigen harmonischen Gesang für eine barbarische und gothische Erfindung hält.4 Er läßt sich hierüber sehr lebhaft, aber mit etwas verdrießlicher Laune heraus; inzwischen verdienen seine Gedanken hierüber von den Meistern der Kunst in Erwägung gezogen zu werden.

»Wenn man bedenkt, (sagt er) daß von allen Völkern der Erde, deren jedes seine Musik und seinen [305] Gesang hat, die Europäer die einzigen sind, die Harmonie und Accorde haben, und dieses Gemengsel der Töne angenehm finden; wenn man ferner erwägt, daß durch so viel Jahrhunderte, da die schönen Künste bey verschiedenen Völkern geblüht haben, keines diese Harmonie gekennt hat; daß weder die orientalischen Sprachen, die so wolklingend und zur Musik so schiklich sind, noch das griechische Ohr, das so fein, so empfindlich und in der Kunst so sehr geübt gewesen, jene so empfindsamen und so wollüstigen Völker auf unsre Harmonie geführt haben; daß ohne sie ihre Musik so bewundrungswürdige Würkung gethan hat, da die unsrige der Harmonie ungeachtet so schwach ist; daß endlich den nordischen Völkern, deren gröbere Sinnen mehr von der Stärke und dem Geräusch der Stimmen, als von der Annehmlichkeit der Accente und den lieblichen Wendungen der Melodie gerührt werden, aufbehalten gewesen, diese große Entdekung zu machen, und sie zum Grundsatz aller Regeln der Musik zu setzen; wenn man, sag' ich, dieses alles bedenkt, so ist es schweer sich der Vermuthung zu enthalten, daß unsre ganze Harmonie eine gothische und barbarische Erfindung sey, auf die wir niemal würden gekommen seyn, wenn wir für die wahren Schönheiten der Kunst, und für die wahre Musik der Natur mehr Gefühl gehabt hätten.«

Es ist aus den mit andrer Schrift gedrukten Worten dieses etwas verdrießlichen Ausfalles gegen die Harmonie deutlich zu sehen, daß dieser große Kenner sich hier von dem Verdruß über die Prahlereyen des Rameau weiter habe hinreissen lassen, als ihn sein Geschmak würde geführt haben. Dieses ist ihm um so mehr zu verzeihen, da es in der That nicht möglich ist, bey den ausschweiffenden Lobsprüchen einiger Franzosen, wenn sie von den vermeinten harmonischen Entdekungen des Rameau sprechen, die sie als die Epoche der wahren Musik angeben, bey kaltem Geblüte zu bleiben.

Inzwischen wird doch auch kein Liebhaber der Harmonie in Abrede seyn, daß nicht ein im Einklang von einem großen Chor vorgetragener Gesang viel Schönheit haben und große Würkung thun könne.

1S. Klang.
2S. Dissonanz, S. 266
3S. Discant.
4S. Diction. de Mus. im Art. Harmonie.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 305-306.
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